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Aktuell Kriminalität

Was steckt hinter zunehmender Gewalt bei Eritrea-Veranstaltungen?

Rund um Eritrea-Veranstaltungen kommt es in den vergangenen Monaten zu Gewalt und Krawallen. Etwa im hessischen Gießen oder am vergangenen Wochenende in Stuttgart. Was steckt hinter all dem?

Ausschreitungen bei Eritrea-Festival in Stuttgart
Samstag, 16. September: Demonstranten sind in Stuttgart während der Eritrea-Veranstaltung von Polizeikräften eingekesselt worden. Foto: Jason Tschepljakow/DPA
Samstag, 16. September: Demonstranten sind in Stuttgart während der Eritrea-Veranstaltung von Polizeikräften eingekesselt worden.
Foto: Jason Tschepljakow/DPA

KARLSRUHE/STUTTGART. Schwere Ausschreitungen in Stuttgart am Rande einer Veranstaltung eritreischer Vereine - die Empörung ist groß und eine politische Debatte über Ursachen und Konsequenzen in vollem Gange. An diesem Dienstag will sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) erneut äußern. Denn die nächste Eritrea-Veranstaltung in der Landeshauptstadt steht schon bevor.

Wie ist die politische Lage in Eritrea?

Schlecht. Nach 30 Jahren bewaffneten Widerstands trennt sich Eritrea 1993 von Äthiopien. Seither wird es von Staatspräsident Isaias Afewerki regiert. Es gibt nur eine Partei, Opposition ist verboten. Weder gibt es eine Verfassung noch Gewaltenteilung noch Wahlen. Eritrea gehört zu den ärmsten Ländern der Welt und gilt als eine der brutalsten Diktaturen. Wegen politischer Verfolgung und der Menschenrechtslage sind Abschiebungen nach Eritrea aktuell nicht möglich, wie das Justizministerium in Stuttgart mitteilt.

Wieviele Eritreer leben im Südwesten und bundesweit?

Nach Angaben der Ausländerzentralregister-Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) waren zum 31. Juli für den Südwesten insgesamt 9024 eritreische Staatsangehörige erfasst. Die meisten leben laut Statistischem Landesamt in der Landeshauptstadt Stuttgart (etwa 900), gefolgt von den Landkreisen Esslingen (ungefähr 470) und dem Rhein-Neckar-Kreis (rund 400).

Die Zahl der in Deutschland lebenden eritreischen Staatsangehörigen beziffert das Auswärtige Amt in einem im Mai 2023 veröffentlichten Bericht mit etwa 70 000 Menschen. Viele von ihnen leben bereits seit Jahrzehnten in Deutschland.

Was machen die eritreischen Vereine und was haben die Protestierenden dagegen?

In Deutschland gibt es seit Jahrzehnten eine Vielzahl eritreischer Vereine, die nach Worten der Politologin und Eritrea-Expertin Nicole Hirt alle von regierungsnahen Eritreern organisiert und von staatlicher Seite unterstützt sind. »Sie geben vor, die Kultur des Landes hochhalten und Neuankömmlingen in Deutschland helfen zu wollen«, sagt die Wissenschaftlerin. In Wirklichkeit aber betrieben sie Regierungspropaganda. Von den Mitgliedern der Verbände werde zum Beispiel Geld eingesammelt in Form von Mitgliedsbeiträgen oder Spenden - »Geld, das dann auch nach Eritrea und an die dortige Regierung zurückfließt«, sagt sie.

Wie sehen sich die Vereine selbst und wie viele gibt es im Südwesten?

Laut Johannes Russom vom Dachverband der eritreischen Vereine in Stuttgart sind alleine in Stuttgart rund 400 bis 450 Mitglieder in knapp zehn Vereinen organisiert. Die Vereine, die es auch in Karlsruhe, Tübingen oder Mannheim gebe, sollten lediglich die Identität Eritreas und das kulturelle Erbe des Landes pflegen. Wie sie zur herrschenden Regierung in Eritrea stehen, dazu wollte Russom sich nicht äußern. Außerdem kümmerten sich die Vereine um Integration neu zugewanderter Eritreer.

Politologin Hirt widerspricht entschieden. Gerade junge Geflüchtete hätten überhaupt kein Interesse daran, an diese regierungsnahen Vereine heranzutreten. »Die Vereine verkörpern ja die Diktatur, vor der die Menschen ja grade erst geflüchtet sind«, sagt sie.

Was für einen Hintergrund haben die Vereinsmitglieder?

Nach Hirts Worten sind dies fast ausschließlich Personen, die hier schon seit 30 bis 40 Jahren leben - »und größtenteils ein inzwischen völlig verklärtes Bild von dem haben, was in Eritrea wirklich vor sich geht«, sagt sie.

Was für eine Rolle spielen Gegner der Regierung und wie sind sie organisiert?

Die eritreische Opposition ist nach Worten von Gerrit Kurtz von der in der Stiftung Wissenschaft und Politik angesiedelten »Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten« traditionell stark zersplittert und zerstritten. Nach Worten von Hirt blieb sie aber über viele Jahre bei Eritrea-Veranstaltungen in Deutschland friedlich. Seit etwa einem Jahr aber sei eine neue Dimension der Gewalt zu beobachten, auch international, sagen die Experten.

»Es gibt offensichtlich in letzter Zeit vermehrt eine zunehmende Mobilisierung und bessere Organisation militanter Regimegegner in ganz Europa, die auch vor Gewalt nicht zurückschrecken«, erklärt Kurtz. »Diese sind wütend, dass die regime-freundlichen Eritrea-Festivals unbehelligt stattfinden können.«

Junge Flüchtlinge würden instrumentalisiert, gezielt zu Veranstaltungen pro-eritreischer Organisationen gefahren und zu Gewalt angestachelt, ergänzt Hirt. Das falle bei den vornehmlich jungen Männer dann auf fruchtbaren Boden. »Für sie ist es sehr frustrierend, wenn die alteingesessenen Eritreer hier die Diktatur feiern«, sagt sie. »Die haben gelitten unter diesem Regime und sehen, dass hier das Regime gefeiert wird.«

Wer steckt hinter dieser »Mobilisierung« von Gewalt?

Da gibt es viele Möglichkeiten, aber Experten wie Hirt halten sich bedeckt und wollen zunächst nicht spekulieren. Zu komplex sei die Problematik und zu unübersichtlich die Gemengelage bei den oppositionellen Gruppen. »Politische Aussagen habe ich bei den Gegnern der Veranstaltung nicht gesehen«, sagte Hirt. Ihrer Einschätzung nach muss sich die Polizei aber darauf einstellen, dass es künftig immer öfter zu Ausschreitungen am Rande von Eritrea-Veranstaltungen kommt. (dpa)