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Warum in der Region über 1.000 Hausärzte fehlen

Hunderte Babyboomer gehen demnächst in Rente. Das verstärkt den Engpass an Hausärzten im Südwesten. Dass nicht genug Jung-Mediziner nachrücken, liegt auch am vergleichsweise geringen Verdienst - aber nicht nur. Ein Allgemeinmediziner aus Eningen wirbt mit spannenden Aufgaben um Nachwuchs.

Dr. med. Alexander Rau betreibt eine Hausarzt-Praxis in Eningen. Dort bietet er Patienten auch Ultraschall-Untersuchungen an.
Dr. med. Alexander Rau betreibt eine Hausarzt-Praxis in Eningen. Dort bietet er Patienten auch Ultraschall-Untersuchungen an. Foto: Steinrücken/GEA
Dr. med. Alexander Rau betreibt eine Hausarzt-Praxis in Eningen. Dort bietet er Patienten auch Ultraschall-Untersuchungen an.
Foto: Steinrücken/GEA

REUTLINGEN. Eigentlich lief es ganz gut. Die Nutzer-Bewertungen auf Jameda waren positiv, das Wartezimmer nicht überfüllt, die Mitarbeiterin am Empfang freundlich. Bis ich mich als Kassenpatientin outete. Nein, ich hätte keinen Notfall, ich wolle nur zur Vorsorge. Da war es schon wieder vorbei mit dem Termin beim neuen Hausarzt. Sie hätten Aufnahmestopp, hieß es von der plötzlich recht geschäftigen Dame in Grün. Ich solle doch mal bei Kollegen nachfragen. Nur dass ich schon bei Kollegen nachgefragt hatte. Das war jetzt der dritte Fehlversuch.

Einzelfall oder Regel? Schwer zu sagen. Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) deuten in die zweite Richtung. Laut einer aktuellen Erhebung ist die Zahl der Hausärzte in Reutlingen in den letzten fünf Jahren um rund 16 Prozent gesunken. Waren im Jahr 2020 noch 103 Allgemeinmediziner im Planungsbereich tätig, sind es im Jahr 2025 nur noch 86 Allgemeinmediziner. Mit weiterem Schwund in den nächsten Jahren ist zu rechnen, denn ein Drittel der Praktiker ist 60 Jahre oder älter. Im selben Zeitraum ist der Anteil der angestellten Ärzte von knapp 11 auf über 30 Prozent gestiegen. Im Jahr 2020 wählten bloß 11 Hausärzte die abhängige Beschäftigung, im Jahr 2025 schon 26 Ärzte.

In Baden-Württemberg fehlen mehr als 1.000 Hausärzte

Mit der Hausarzt-Lücke steht Reutlingen nicht allein da, das Problem betrifft ganz Baden-Württemberg. »Rund 1.000 Hausarztsitze in Baden-Württemberg können wir aktuell nicht besetzen«, teilt KVBW-Sprecher Kai Sonntag auf GEA-Nachfrage mit. Das ist ein Achtel der Planstellen – gemessen an den rund 7.000 Hausärzten, die aktuell im Land tätig sind. Auch hier verheißt die Demografie nichts Gutes: »Ein Fünftel der Hausärzte ist 65 Jahre und älter«, weiß Sonntag. »In den nächsten fünf Jahren geht geschätzt die Hälfte davon in Ruhestand.« Der KVBW-Sprecher erwartet, dass sich nicht für alle Stellen Nachfolger finden lassen. »Wir werden vermutlich einige hundert Hausärzte verlieren.«

Die Ärztezahl ist die eine Sache, die Arztzeit die andere. »Die zur Verfügung stehende Arztzeit geht permanent zurück«, berichtet Sonntag. Der Grund: »Die neuen Ärzte versorgen weniger Patienten als die alten Ärzte.« Viele wollten nicht in Vollzeit arbeiten, sondern in Teilzeit. Nicht selbstständig sein, sondern angestellt.

Auf einen Medizin-Studienplatz kommen drei Bewerber

Schuld an der Misere tragen mehrere gesellschaftliche Entwicklungen. Da ist etwa die Zahl der Medizin-Studienplätze, die nicht reicht. Von rund 30.000 Bewerbern wurden im Wintersemester 2024/25 circa 10.000 Erstsemester an staatlichen Hochschulen angenommen – zwei Drittel der Anwärter gingen also leer aus. Zu diesem Ergebnis kam das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE): ein Think Tank für die Hochschullandschaft mit Sitz in Gütersloh.

Das Angebot variiert von Bundesland zu Bundesland. Denn für die Einrichtung von Medizin-Studienplätzen sind die jeweiligen Wissenschaftsministerien zuständig. Dabei schlägt sich Baden-Württemberg im Ländervergleich gar nicht mal so schlecht: Mit 15 Medizin-Studienplätzen an staatlichen Hochschulen pro 100.000 Einwohner (Studienjahr 2024) rangiert der Südwesten bundesweit im Mittelfeld.

Ein Medizin-Studienplatz kostet 25.000 Euro pro Jahr

Dabei ist der Bedarf groß und der Mangel vorhersehbar: Die Babyboomer werden alt, fallen als Ärzte bei der Arbeit aus und brauchen als Patienten mehr Versorgung. Warum also hat die Politik nicht rechtzeitig gegengesteuert? Das Aufstockung der Medizin-Studienplätze dürfte - wie CHE argwöhnt – am Geldbeutel gescheitert sein. Allein die laufenden Ausgaben pro Person und Jahr würden sich für den Staat auf rund 25.000 Euro belaufen. Hinzu kommt die lange Planungszeit: Der Mediziner, der heute mit dem Studium anfängt, kommt erst in 12 bis 15 Jahren in die Versorgung der Patienten.

Trotzdem lohnt sich die Investition für die Bundesländer, meint CHE. Und spricht vom sogenannten »Klebeeffekt«: der Hoffnung, dass Medizin-Absolventen sich in der Nähe ihres Studienorts als Ärzte ansiedeln. Und tatsächlich gibt die Statistik diesem Kalkül Recht: Regionen mit medizinischer Fakultät haben eine vergleichsweise hohe Arztdichte. Baden-Württemberg profitiert dabei von Tübingen, Heidelberg, Ulm und Freiburg. Die vier Hochschulen stellen gemeinsam knapp 1.200 Medizin-Studienplätze zur Verfügung (Studienjahr 2024). Dank dieser Standorte hat die Region Neckar-Alb mit 208,7 praktizierenden Medizinern je 100.000 Einwohnern eine mittlere Ärztedichte im Bundesvergleich.

Über die Hälfte der Ärzte in Baden-Württemberg sind Frauen

Die schwierige Arztsuche für Patienten hat eine zweite Ursache: die reduzierte Arbeitszeit. Das liegt auch an der Verweiblichung des Berufs. »In diesem Jahr fand der Wechsel statt«, resümiert KVBW-Sprecher Sonntag. »Jetzt gibt es mehr Frauen als Männer unter ambulanten Ärzten und Psychotherapeuten in Baden-Württemberg.« Und Frauen wollen zugunsten der Familie nun mal häufig lieber in Teilzeit und als Angestellte arbeiten als Männer.

Der Patient bekommt beim Hausarzt eine Rundum-Versorgung

Was also tun, um Nachwuchs zu gewinnen? Alexander Rau sieht die Lösung in einer modernen Praxis, die sowohl für Ärzte als auch für Patienten attraktiv ist. Der promovierte Mediziner betreibt eine Hausarzt-Praxis in Eningen. Er beschäftigt sechs weitere Ärzte. »Größere Gemeinschaften sind die Zukunft«, ist er überzeugt. »Die kleine Einzelpraxis wird es immer weniger geben.« Sein Modell – ein Inhaber, sechs Angestellte – bietet seiner Meinung nach viele Möglichkeiten: »Man kann unternehmerisch tätig sein und die Strukturen selbst gestalten« – so wie er selbst. »Oder man kann finanzielles Risiko, organisatorische Aufgaben und bürokratischen Aufwand abgeben und dank Teilzeit mehr Raum fürs Private haben.« Zwei seiner Kollegen machen das – die eine ist Mutter, der andere Fast-Rentner.

Rau bietet seinen Kollegen Spielraum: nicht nur beim Beschäftigungsverhältnis, sondern auch beim Arbeitsinhalt. Neben der allgemeinmedizinischen Versorgung offeriert seine Einrichtung auch Extra-Leistungen für innere Organe, Herz und Leber, für Diabetiker und Todkranke. Für die Hausärzte bedeutet das laut Rau: »Sie können sich breit aufstellen oder spezialisieren.« Für die Patienten bedeutet das: »Sie werden unter einem Dach rundum versorgt.« Hintergrund der weitgefassten Angebots-Palette ist auch die lange Wartezeit auf Facharzt-Termine. Anders als der Facharzt – und das ist in Raus Augen ein weiteres Plus – hat der Hausarzt es mit dem ganzen Menschen zu tun. »Von manchen Patienten kenne ich die Familiengeschichte, weiß von Eheproblemen und Jobverlust.« Viele der geschätzt 4.000 Patienten kommen seit Jahren in Raus Praxis, oft mitsamt Angehörigen.

Angehende Ärzte wollen geregelte Arbeitszeit, guten Verdienst, vielseitige Aufgaben

Rau rennt mit seinem Konzept offene Türen ein beim potenziellen Nachwuchs. Dieser durfte in dieser Woche reinschnuppern in Raus Praxis. Zehn Medizin-Studenten aus ganz Deutschland legten in Eningen einen Stopp ein. Einige waren sogar aus Hamburg und München angereist, um an der sogenannten Doc-Tour der Techniker Krankenkasse Baden-Württemberg teilzunehmen. Mit der dreitägigen Info-Veranstaltung will die TK Einblick geben in den Arbeitsalltag niedergelassener Hausärzte und Nachwuchskräfte anwerben.

Vor Ort erkundigten sich die Studenten nach Aufgaben, Arbeitszeit und Verdienst. Mit diesen Kriterien bei der Berufswahl lagen sie voll im Trend. Im »Berufsmonitoring« befragen Kassenärztliche Bundesvereinigung, Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland und Medizinischer Fakultätentag regelmäßig Nachwuchsmediziner nach ihren Berufswünschen. An der jüngsten Untersuchung nahmen 8.600 Studenten teil. Zu den Must-Haves gehören demnach Vereinbarkeit von Beruf und Familie (93 Prozent Zustimmung), geregelte Arbeitszeiten (83 %), flexible Arbeitszeiten (81 %) und guter Verdienst (79 %). Die Mehrheit will ein breites Spektrum an Krankheiten behandeln (68 %), die Lebensgeschichte der Patienten kennen (65 %) und im Team mit Ärzten aus verschiedenen Fachrichtungen zusammenarbeiten (64 %).

Hausärzte verdienen weniger als Kliniker und Fachärzte

Der Statistik zufolge dürften Ärzte wie Rau sich also kaum vor Stellengesuchen retten können. Schließlich erfüllt seine Hausarzt-Praxis in Eningen die meisten Wunsch-Kriterien. Doch die Realität ist ernüchternd. »Bewerbungen sind rar«, sagt er. »Ich bräuchte zusätzliche Leute.« Die Rekrutierungsprobleme spiegeln sich auch im »Berufsmonitoring« wider: Nur 67,5 Prozent der Ärzte in spe können sich der Umfrage zufolge die Anstellung in einer fremden Niederlassung (jedweder Fachrichtung) vorstellen. Die Niederlassung mit eigener Hausarzt-Praxis finden bloß 42,6 Prozent der Befragten attraktiv. Den Beliebtheits-Wettbewerb gewinnen dagegen die Anstellung im Krankenhaus (72 %) und die Niederlassung mit eigener Facharzt-Praxis (67,5 %).

Der Nachteil gegenüber der Konkurrenz dürfte auch hier – wieder mal – im Geldbeutel zu suchen sein: Angestellte Klinikärzte und niedergelassene Fachärzte verdienen mehr als angestellte oder niedergelassene Hausärzte. Rau versucht, das Finanzloch ein Stück weit zu stopfen. »Meine angestellten Ärzte bekommen ein Gehalt auf dem Niveau von Fachärzten oder sogar Oberärzten in Kliniken«, erzählt er. Auch die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg sucht den Ausgleich: Sie übernimmt einen Teil der Bezahlung von Medizinern, die ihre Facharzt-Ausbildung in Hausarzt-Praxen machen. Alles in der Hoffnung, dass mehr Mediziner sich für den Hausarzt-Beruf entscheiden und mehr Patienten eine gute allgemeinmedizinische Versorgung bekommen. (GEA)

miriam.steinruecken@gea.de