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Aktuell Interview

Warum ein Politikwissenschaftler eine Wahlrechtsreform für notwendig hält

Der Freiburger Politikwissenschaftler Michael Wehner zu den Folgen der Wahlrechtsreform nach der Bundestagswahl und warum er eine erneute Reform für notwendig hält.

Ein Wähler wirft seinen Stimmzettel in die Wahlurne. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juli 2024  entschieden, dass die Wahl
Ein Wähler wirft seinen Stimmzettel in die Wahlurne. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juli 2024 entschieden, dass die Wahlrechtsreform mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Foto: Michael Kappeler/dpa
Ein Wähler wirft seinen Stimmzettel in die Wahlurne. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juli 2024 entschieden, dass die Wahlrechtsreform mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Foto: Michael Kappeler/dpa

FREIBURG/REUTLINGEN. 23 Wahlkreissieger ziehen nach der Bundestagswahl trotz gewonnenem Direktmandat nicht in den Bundestag ein. Unter ihnen ganze sechs aus Baden-Württemberg, alle von der CDU. Grund ist das neue Wahlrecht zur Verkleinerung des Bundestages, bei der gewählte Direktkandidaten nur dann ein Mandat bekommen, wenn ihre Partei auf genügend Zweitstimmen kommt. Doch ist das wirklich gerecht und wo gibt es sonst noch Probleme bei der Reform des Wahlrechts? Der GEA hat darüber mit dem Freiburger Politikwissenschaftler Michael Wehner gesprochen.

Bei der Bundestagswahl galt erstmalig die neue Wahlrechtsreform. Sie wurde von der Ampel-Koalition im Mai 2023 beschlossen. Warum kam es zu dieser Reform?

Michael Wehner: Die ständige Vergrößerung des Bundestages durch Überhangs- und Ausgleichsmandate und die Klagen in der Öffentlichkeit über das XXL-Parlament haben dazu geführt, dass zwischen den Ampelparteien der Beschluss gefasst wurde, das Wahlrecht zu reformieren. Positiv muss dabei gewürdigt werden, dass mit dem neuen Wahlrecht die Zahl der Bundestagssitze auf 630 gedeckelt wurde. Das ging aber zulasten der Tatsache, dass damit nicht jeder Wahlkreissieger, der ein Direktmandat gewonnen hat, im Bundestag vertreten ist.

War die Reform aus Ihrer Sicht also notwendig?

Wehner: Da wir uns mit 736 Abgeordneten das größte Parlament der Welt geleistet haben, war die Regierung gegenüber der Bevölkerung durchaus in der Bringschuld, daran etwas zu ändern. Letztendlich ist es bei einer Wahlrechtsreform normal, dass man nicht alle Interessen bedienen, nicht alle Anliegen berücksichtigen kann. Die Politikwissenschaft nennt das Unvereinbarkeitstheorem und so hat sich die Ampelregierung am Ende auf diese Reform des Wahlrechts geeinigt. Das war möglich, da eine Reform des Wahlrechts in Deutschland immer noch mit einer einfachen Mehrheit umsetzbar ist.

»Stimmen in Tübingen werden durch die Reform im Bundestag nicht mehr gehört«

Was hat sich mit der Reform geändert?

Wehner: Man hat es mit der Reform geschafft, das Parlament auf eine Maximalgröße von 630 Abgeordneten zu begrenzen. Das war der Kern der Reform. Um dies zu schaffen, hat man die Zweitstimmendeckung eingeführt, entscheidend für die Vergabe der Sitze im Bundestag sind also die Zweitstimmen. Die Erststimme verliert somit an Bedeutung. Parteien und Kandidaten sind nun auf ein starkes Zweitstimmenergebnis angewiesen, um in den Bundestag einziehen zu können.

Direkt gewählt und doch keinen Sitz im Bundestag – so ergeht es nach der Bundestagswahl nun 23 Direktkandidaten. 18 davon kommen aus der CDU oder der CSU. Geht die Reform einseitig zulasten der Union, wie es Friedrich Merz nun nach der Wahl kritisiert hat?

Wehner: Die CDU/CSU fährt bei einer Bundestagswahl traditionell die meisten Direktmandate ein. Daher ist die Union auch nach dieser Wahl am meisten von der Wahlrechtsreform betroffen. Die Reform wurde von der Ampelkoalition beschlossen, die Union war hier außen vor.

»Demokratietheoretisch tatsächlich ein Problem«

Wie schon vor der Wahl prognostiziert, kam es durch das neue Wahlrecht nun dazu, dass manche Wahlkreise »verwaist« sind, also kein einziger der dortigen Direktkandidaten in den Bundestag einziehet. In Baden-Württemberg ist das in Tübingen, Stuttgart II und Lörrach der Fall. Ist das ein Problem?

Wehner: Das ist demokratietheoretisch tatsächlich ein großes Problem. Am Beispiel Tübingen betrachtet kann man sehen: Hier wurden rund 54.000 Stimmen an die CDU vergeben, die nun aber keinerlei Relevanz haben, da der gewählte Direktkandidat aufgrund des neuen Wahlrechts nicht in den Bundestag einzieht. Zieht auch kein Kandidat aus anderen Parteien in diesem Wahlkreis über die Landesliste in den Bundestag ein, ist dieser Wahlkreis »verwaist«. Beim Wahlkreis Tübingen heißt das also, dass er im Bundestag nicht repräsentiert ist. Man kann tatsächlich sagen, dass die Stimmen in Tübingen dadurch in Berlin nicht gehört werden. Regionale Themen, die in Tübingen eine Rolle spielen, wie etwa der Ausbau der B27, die Digitalisierung der Region, Krankenhausreformen, Erhöhung des BAFÖG in einer Studierendenstadt oder die Förderung des Cyber Valley können nun nicht mehr von einem Tübinger Abgeordneten in die Fraktionen und Ausschüsse im Bundestag eingebracht werden. Umliegende Wahlkreise müssten nun den Wahlkreis Tübingen in Berlin mitbetreuen, ist dies aber nicht der Fall, bleibt Tübingen dort nicht repräsentiert.

Experten sehen durch das neue Wahlrecht eine Polarisierung zwischen Stadt und Land. Was meinen sie damit?

Wehner: Diese mögliche Polarisierung ist vor allem innerparteilich ein wichtiges Thema. Denn wenn große Städte, wie Stuttgart, Mannheim oder Karlsruhe bei einer Partei wie der CDU nicht mehr mit einem Direktmandat vertreten sind, werden die urbanen, großstädtischeren Themen nicht mehr so gut in der Fraktion gehört. Die Positionen von dort drohen im innerparteilichen Diskussionsprozess unterzugehen, während die ländlichen Positionen immer dominanter werden. Als Konsequenz könnte die Partei ins Konservative driften.

»Die Union hat für eine erneute Reform des Wahlrechts gute Argumente auf ihrer Seite«

Muss die Reform also reformiert werden?

Wehner: Das Ganze hätte natürlich ein gewisses »Gschmäckle«, im Sinne von: Jede Koalition bastelt sich ihr Wahlrecht, wie sie es gerne hätte. Insofern bin ich kein großer Freund von ständigen Wahlrechtsreformen. Ich würde mir wünschen, dass man bei Wahlrechtsreformen eine größere Hürde von einer Zweidrittelmehrheit einbaut, um einen größeren Konsens herzustellen. Solange es aber das personalisierte Verhältniswahlrecht in Form von Erst- und Zweitstimme gibt, plädiere ich dafür, dass jeder Wahlkreissieger in einem der 298 Wahlkreise auch tatsächlich in Berlin vertreten ist.

Haben Sie einen Vorschlag, was man jetzt ändern müsste?

Wehner: Es gäbe die Möglichkeit, die Zweitstimmendeckung so zu gestalten, dass man die momentan 630 Sitze im Bundestag vielleicht mit 20 Mandaten erhöht, und damit die Gefahr, trotz Direktmandat nicht ins Parlament einzuziehen, deutlich reduziert. Mein Freiburger Kollege Uwe Wagschal und ich empfehlen aber schon lange eine territoriale Vergrößerung der Wahlkreise, damit es künftig statt 298 nur noch 250 Wahlkreise gibt. Auch damit könnte man die Größe des Parlaments dauerhaft verkleinern, wenn auch auf Kosten von Bürgernähe.

Zur Person

Michael Wehner ist Leiter der Außenstelle Freiburg bei der Landeszentrale für politische Bildung. Außerdem arbeitet er als Honorarprofessor für Politikwissenschaften an der Uni Freiburg. Seine Fachgebiete sind unter anderem Kommunalpolitik, Landespolitik, Politische Bildung und Wahlverhalten. (kali)

Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass es mit der neuen Bundesregierung zu einer Anpassung der Reform kommen wird?

Weher: Die CDU/CSU hat in der Bundestagswahl leidvoll erfahren müssen, dass die Reform vor allem sie selbst trifft. Für eine erneute Reform hat die Union gute Argumente auf ihrer Seite. Denn wenn ein Wahlkreis wie Lörrach, der im südlichsten Zipfel Deutschlands an der Grenze zu unseren Nachbarn liegt und damit auch aus europäischer Sicht viele wichtige Anliegen in Berlin einbringt, dort nun nicht mehr vertreten ist, dann ist das äußerst problematisch. Genauso fragwürdig ist es, wenn Bürger in ihrem Wahlkreis keinen Bundestagsabgeordneten mehr haben, an den sie sich mit Themen, wie Fluglärm, Einkaufstourismus oder das atomare Schweizer Endlager an der deutschen Grenze wenden können. (GEA)