Es ist ein Parteitag, wie ihn selbst erfahrene Beobachter selten erlebt haben. Abstimmungsergebnisse, die so nah beieinanderliegen (3 Stimmen, 0,53 Prozent), dass Kandidaten komplett hinschmeißen. Neue Kandidaten, die spontan antreten, nur um die absolute Mehrheit erneut zu verfehlen. Ein Versammlungsleiter, der alle Mitglieder aus dem Saal schickt, weil das Gerücht umgeht, dass elektronische Stimmgeräte missbraucht würden. Zwei verfeindete Lager, die in so einem ausgewogenen Machtverhältnis vertreten sind, dass sich die Frage stellt, wie diese Partei je befriedet werden soll.
Bei der AfD in Baden-Württemberg geht es an diesem Samstag in der Stuttgarter Messe um die Nachfolge von Alice Weidel. Die will sich auf ihre Berliner Ämter als Bundesparteichefin und Co-Fraktionsvorsitzende konzentrieren und nicht mehr für den Landesvorsitz kandidieren. Was eigentlich strukturiert und durchgeplant war, wird zu einem stundenlangen Gehänge und Gewürge.
Um 20.15 Uhr ist die Schlacht in der Halle 3 der Stuttgarter Messe vorbei. Der Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier und der Landtagsabgeordnete Emil Sänze werden als neue Doppelspitze der AfD bestätigt. Beide geben sich die Hand und lächeln, die Mitglieder klatschen erleichtert. Ein Nervenkrieg liegt hinter ihnen. Kurz darauf wird der Parteitag abgebrochen und die restlichen Wahlen auf den Sonntag verschoben.
Wenige Minuten zuvor waren Sänze und Frohnmaier noch überraschend gegeneinander angetreten, hatten kämpferische Reden gehalten. Frohnmaier sprach davon, die Regierung zu jagen, Sänze vom bevormundeten Volk und davon, das Land zu verteidigen. »Wir lassen uns nicht unterstellen, dass wir Verfassungsfeinde sind. Die anderen sind die Verfassungsfeinde«, sagt Sänze in seiner Bewerbungsrede.
In der Tonalität unterscheiden sich die beiden an diesem Tag gar nicht so sehr, doch werden sie unterschiedlichen Lagern in der Südwest-AfD zugerechnet. Frohnmaier gehört ins Weidel-Lager, er war bereits zwei Jahre stellvertretender Landesvorsitzender. Sänze, parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion, wird dem völkisch-nationalen Lager zugerechnet, soll dem »Flügel« nahestehen - der ja eigentlich verboten ist, dessen Einfluss aber immer noch so stark ist, dass der ganze AfD-Landesverband seit kurzem vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Der Riss zwischen gemäßigt-konservativen und völkisch-nationalen Mitgliedern geht schon lange und tief durch den Landesverband. Das Problem auf diesem Parteitag ist, dass die beiden Lager in der Halle erstmals offenbar in nahezu identischer Stärke vertreten sind - und damit das ganz rechte Lager deutlich stärker als früher. »Nie wieder ein Parteitag im Sommer«, sagt ein Landesabgeordneter am Rande. Denn die Gemäßigten, so seine Analyse, seien alle im Urlaub, lägen in der Sonne. Die Radikalen aber kämen bei jedem Wetter. »Die haben ja nix anderes.«
Zunächst treten in der Messe die Bundestagsabgeordneten Dirk Spaniel und Martin Hess gegeneinander an. Hess sieht sich selbst einer gemäßigten Strömung in der Partei zugehörig. Spaniel hingegen wird eine Nähe zum »Flügel« nachgesagt. Keiner der beiden erreicht eine absolute Mehrheit, die beiden ziehen zurück. Selbst wenn ein Kandidat in einem weiteren Wahlgang mehr als 50 Prozent Zustimmung erreichen würde, würde das nicht zur Einigung und Befriedung des Landesverbands beitragen, sagte Hess. »Wir dürfen uns nicht weiter beschädigen.« Spaniel will nicht aufgeben, wirbt noch für eine Doppelspitze mit Hess. Das aber lehnen die Mitglieder mehrheitlich ab.
Dann treten Frohnmaier und Sänze spontan gegeneinander an. Auch sie schrammen jeweils hauchdünn an einer Mehrheit vorbei. Frohnmaier kommt auf 47,23 Prozent, Sänze auf 46,51 Prozent. »Kein einfacher Tag«, kommentiert Frohnmaier. Der Abend wird immer später. Daraufhin erklären sich die Kandidaten bereit, den Landesverband gemeinsam zu führen. Diesmal stimmen dann 319 von 533 Mitgliedern für diese Lösung.
Ob die neue Doppelspitze die Gräben in der Südwest-AfD zuschütten kann, darf zumindest bezweifelt werden - zumal der Verband sehr schlechte Erfahrungen mit Doppelspitzen hat. Spaniel und der Fraktionschef Bernd Gögel führten die Partei im Jahr 2019 gemeinsam - und zerkrachten sich so heftig, dass die AfD nur noch mit Schlammschlachten und Gehässigkeiten Schlagzeilen machte.
Schließlich übernahm Weidel vor der ersten Corona-Welle, um den Verband zu befrieden. Der Parteitag in der Stuttgarter Messe hätte nicht deutlicher demonstrieren können, dass sie damit nicht wirklich erfolgreich war.
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