TÜBINGEN. Konstantin Nikolaou ist in Eile. Er muss zum Kongress, zur Klinik, zum Patienten. Er ist Arzt, sein Tag ist voll. Doch jetzt hat er einen neuen Kollegen. Er trifft ihn niemals, aber er spürt ihn immer. Der Neue nimmt Arbeit ab und gibt Zeit zurück. Er warnt vor Problemen und empfiehlt Lösungen. Er erleichtert den Alltag und schafft Freiraum. Der Neue ist Nullen und Einsen, Code und Software. Er steckt im Computer und wirkt im Hintergrund. Der Neue ist eine künstliche Intelligenz (KI) und Nikolaou freut sich über den Zuwachs.
Zwischen Angst und Hoffnung
Künstliche Intelligenz wird das 21. Jahrhundert prägen. Die Technologie verändert alle Lebensbereiche. Vielerorts schürt sie Ängste: vor Überforderung und Jobverlust, vor Hassrede und Falschnachrichten, vor Cyberattacken und Killer-Drohnen. Doch es gibt ein Feld, wo der Aufstieg der Maschinen Hoffnung weckt: die Medizin. In Radiologie, Neurologie und Chirurgie unterstützt KI Analyse, Diagnose und Therapie. In den USA sind laut Arzneimittelbehörde FDA rund 1.000 medizinische KI-Systeme auf dem Markt, in Europa erhalten ebenfalls immer mehr Produkte eine Zulassung. Übernimmt jetzt der Robo-Doc das Kommando und schickt den Menschen-Arzt in Ruhestand? Nicht ganz. Denn die KI kämpft noch mit Kinderkrankheiten.
Scharfe Bilder mit wenig Strahlung
Das weiß auch Nikolaou. Trotzdem benutzt er KI – und verbessert sie. Sein Arbeitgeber ist das Universitätsklinikum Tübingen, sein Fachgebiet die Radiologie, sein Titel Professor, seine Funktion Abteilungsleiter. Die Patienten kommen mit Schmerzen, das Nikolaou-Team steckt sie in Röhren. Die Tomographen durchleuchten Körper, zerlegen sie in Schichten und bannen sie auf Bilder. Hunderte Aufnahmen in schwarz, weiß, grau. Stundenlang begutachtet von Dutzenden Ärzten. Sie suchen nach den Ursachen der Leiden und finden Brüche, Entzündungen, Tumore. Die Entdeckung der Krankheit ist der Anfang der Behandlung, das Nikolaou-Team die erste Anlaufstelle, die Radiologie der Eingang zum Klinik-Kosmos – aber auch das Nadelöhr. Mitarbeiter und Geräte sind ausgelastet, Patientenlisten und Wartezimmer voll. »Wir gehen unter in Diagnostik«, sagt Nikolaou.
Rettung verspricht die KI. Etwa mittels Dateneffizienz: Die Bilder werden in kürzerer Zeit und mit kleinerer Strahlung erstellt. Der Nachteil: Die Aufnahmen sind verrauscht und unscharf. Bis die KI eingreift: Bei der Bearbeitung entfernt sie Messungenauigkeiten und ergänzt Bildpunkte. Sie kann falsche Bilder korrigieren, weil sie richtige Bilder kennt. Soweit, so normal: Smartphone und Social Media machen zwar dasselbe. Magnetresonanztomographen (MRT) und Computertomographen (CT) aber mit mehr Gewinn: Da geht es nicht um sexy Selfies für Möchtegern-Models, sondern um frühere Termine, schnellere Untersuchungen, weniger Nebenwirkungen. Zum Wohl von Patienten – und Krankenhaus: Das Radiologie-Rädchen läuft rund und hält das Klinik-Getriebe in Schwung.
Mediziner und Informatiker im Team
Den Anstoß verdankt die Abteilung Thomas Küstner. Der Ingenieur schlägt die Brücke zwischen Radiologie und Informatik, Universitätsklinikum und Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme. Sein Midas Lab entwickelt KI-Lösungen für Medizin-Probleme. »Wissen muss schnell aus der Forschung in die Anwendung«, fordert der Professor. »Tübingen ist der perfekte Ort: Zwischen Universität, Klinikum und Max-Planck-Instituten ist der Weg kurz und der Austausch gut.«
Hirnvolumen verrät Alzheimer
Zum Netzwerk gehören auch privatwirtschaftliche Unternehmen. Zum Beispiel AIRAmed: Das Start-up ist eine Ausgründung des Universitätsklinikums. Der Weg führt vom Schnarrenberg in die Südstadt. Die Tübinger Radiologie-Klinik schickt viele Bilder in die Firma zwischen Landratsamt und Arbeitsagentur. Die 30 Mitarbeiter dort haben sich seit dem Jahr 2019 auf die KI-Analyse von MRT-Aufnahmen spezialisiert. Aber nicht zur Entdeckung von Knochenbrüchen, Lungenentzündungen oder Krebstumoren – das ist inzwischen Standard. Sondern zur Früherkennung von Demenz, Parkinson und Multiple Sklerose. Dabei gehen Nervenzellen im Gehirn kaputt, das Hirnvolumen nimmt ab.
Diesen Umstand nutzt AIRAmed. »Hirnvolumetrie« nennt Kathrin Metzler die Methode. »Wir messen das Hirnvolumen. Ist es zu gering, verweist das auf eine Hirnerkrankung«, erklärt sie. Das Produkt bewirbt die Vertriebsleiterin auf Ärzte-Kongressen. Dort zeigt sie Hirn-Scans. Diese wertet die KI in drei Schritten aus. Erst wird das Hirn in farbige Areale unterteilt: Hippocampus rot, Cerebellum grün, Ventrikelsystem blau. Dann wird das Volumen gemessen: Gesamthirn 1,01 Liter, Hippocampus 5,3 Milliliter, Cerebellum 133 Milliliter. Schließlich wird das Hirnvolumen des Patienten mit dem Hirnvolumen gesunder Menschen verglichen: grün Entwarnung, gelb Vorsicht, rot Alarm. »Verminderte Volumen in bestimmten Hirnarealen deuten hin auf bestimmte neurodegenerative Erkrankungen«, erklärt Metzler.
Die Herausforderung: Im Alter schrumpft das Gehirn. 0,2 Prozent pro Jahr, bei Männern ab 35 Jahren, bei Frauen ab 40 Jahren. Die Aufgabe besteht darin, gesunden Schwund von krankem Schwund zu unterscheiden. Dabei geht es teils um wenige Milliliter. »Da kommt das menschliche Auge an seine Grenzen. Gerade im Frühstadium wird Alzheimer leicht übersehen«, berichtet Metzler. Mit AIRAmed passiert das nicht. Die KI erkennt kleinste Abweichungen. 85 von 100 neurodegenerativen Erkrankungen detektiert sie korrekt. »Das schafft nicht jeder Arzt«, sagt Metzler.
Je früher die Erkennung, desto besser die Therapie. »Zerstörte Nervenzellen bringt kein Medikament zurück«, erklärt Metzler. »Darum braucht man früh Medikamente – und früh Diagnosen.« Genau dort setzen die neuen Alzheimer-Präparate an – und die Hirnvolumetrie. Damit können Betroffene Studien zufolge bis zu drei Jahre länger ein selbstständiges Leben führen.
Roboter operiert genauer als Mensch
Auch in der Urologie ist die KI auf dem Vormarsch. »KI-Roboter werden Ärzten bald bei Operationen assistieren«, ist Peter Sparwasser überzeugt. Der Oberarzt arbeitet an der Universitätsklinik für Urologie in Tübingen. Dort entfernt er Verschlüsse, Steine und Tumore aus Nieren, Harnblasen und Prostatas. 150 Operationen mit Roboter-Assistenz absolvierte er allein letztes Jahr – allerdings noch ohne KI. »Operationen mit Robotern sind Standard«, berichtet Sparwasser. Die Urologie hat den Marktführer da Vinci vom US-Hersteller Intuitive Surgical. Das Gerät kostet rund zwei Millionen Euro.
Die Investition lohnt sich, findet Sparwasser. Er sitzt am Monitor. Der zeigt Bilder der Schnittstelle – in Echtzeit, Vergrößerung und Dreidimensionalität. Per Hand steuert Sparwasser die Konsole. Die Bewegung überträgt sich auf vier Roboterarme. Vorne stecken Zange, Schere, Kamera und Leuchte. Damit laboriert das Gerät im Körper – beweglicher, kleinteiliger, präziser als jeder Mensch. Zum Vorteil des Patienten: »Krankes Gewebe wird vollständig entfernt, gesundes Gewebe weitgehend erhalten«, lobt Sparwasser. »Für den Patienten bedeutet das weniger Schmerzen und schnellere Heilung.«
Der Da-Vinci-Roboter ist schon gut, aber er könnte noch besser werden. Seit die Patente von Intuitive Surgical abgelaufen sind, drängt die Konkurrenz auf den Markt und zwingt den Platzhirsch zur Innovation. Darum entwickelt Intuitive eine KI für da Vinci. Sie soll den Chirurgen durch die Operation lotsen: Folgen vorausberechnen, Empfehlungen geben, vor Gefahren warnen – alles in Echtzeit.
Die richtige Therapie für jeden Tumor
Die Medizin-KI ist oft besser als der Arzt. Jedes System kann eine Sache richtig gut – zum Beispiel Knochenbrüche auf MRT-Bildern erkennen – und sonst nichts. KI sind Spezialisten, keine Generalisten. Diese Einschränkung setzt dem Einsatz enge Grenzen – noch. Denn neuerdings werden KI-Systeme mit mehr Fähigkeiten ausgestattet. Dahin geht die Entwicklung in vielen Bereichen.
Vor allem bei Krebstherapien: »Früher wurden alle Zellen zerstört – schlechte und gute«, erinnert sich Sparwasser. »Jetzt wird vom speziellen Tumor die passende Therapie abgeleitet.« Das Problem: Jeder Tumor ist einzigartig. Er ist anders als andere Tumore in Gewebeart und Genmutation, Stadium der Krankheit und Sitz der Metastasen, Schmerzen und Einschränkungen des Patienten.
So viele Tumore es auch gibt: Es gibt fast ebenso viele Therapien. Chemotherapie, Strahlentherapie, Immuntherapie, Antikörpertherapie, Antihormontherapie – und von allem mehrere Sorten. Jedem Tumor seine Therapie: »Das ist schwer zu überblicken«, meint Sparwasser. Darum entwickelt die Tübinger Urologie mit anderen Universitätskliniken eine KI. Sie soll das beste Match finden. Den Nutzen sieht Sparwasser vor allem für Patienten außerhalb von Fachzentren: »Die KI unterstützt die Ärzte bei der Entscheidung für die richtige Behandlung.«
Mehr Daten für besseres Training
Die KI soll also Antworten geben auf immer komplexere Fragen. Um im Ernstfall das perfekte Match zu finden, muss sie beim Training riesige Datenmengen nach Zusammenhängen durchforsten. Doch genau hier liegt das Problem: Die Entwickler von medizinischer KI bekommen in Deutschland nicht genug Daten. Schuld ist nicht nur strenger Datenschutz, sondern auch fehlende Digitalisierung. Diese Lücke will das Universitätsklinikum Tübingen schließen. Urologie und Radiologie zum Beispiel haben sich mit anderen Universitätskliniken zusammengetan. Gemeinsam richten sie Plattformen zum Datenaustausch ein.
Trotz solcher Leuchtturm-Projekte: Der medizinische Alleskönner, der Zugriff hat auf eine zentralisierte Datenbank mit allen Gesundheitsdaten von allen Menschen und der jedem Patienten seine maßgeschneiderte Therapie verpasst, bleibt bis auf Weiteres Utopie. Oder Dystopie, je nachdem. Vorerst gilt noch mit den Worten von Radiologe Nikolaou: »Die KI leistet Hilfe. Der Arzt entscheidet – und trägt die Verantwortung.« (GEA)
So funktioniert künstliche Intelligenz
Künstliche Intelligenz (KI) stützt sich auf künstliche neuronale Netze (KNN). Sie sind in Struktur und Funktion dem menschlichen Gehirn nachgebaut.
Ein KNN besteht aus mehreren Schichten: einer Eingabe-Ebene, die Daten aufnimmt, vielen Zwischenebenen, die mit Daten rechnen, einer Ausgabe-Ebene, die das Ergebnis anzeigt.
Die Daten nehmen einen bestimmten Weg durch das KNN. Dieser Weg ist geprägt von Entscheidungen. Das erzielte Ergebnis wird verglichen mit dem gewünschten Ergebnis. Wenn beide Ergebnisse übereinstimmen, dann werden die Verbindungen zwischen den Neuronen, über welche die Information gelaufen ist, gestärkt. Diese Wege werden in Zukunft mit größerer Wahrscheinlichkeit benutzt. Wenn beide Ergebnisse sich unterscheiden, dann werden die Verbindungen geschwächt.
Dieser Prozess wird Tausende Male wiederholt. So lernt das KNN. Am Ende kann es Birnen und Äpfel unterscheiden – oder gesunde und kranke Hirnareale. (mis)