»An vielen Stellen gut vorangekommen«, »Trippelschritte« oder gar »katastrophal und gefährlich«? Die Einschätzungen zu den Ergebnissen der Bund-Länder-Verhandlungen zur Migration gehen in Baden-Württemberg weit auseinander.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann sieht in den Ergebnissen der stundenlangen Beratungen einen Beleg für die Handlungsfähigkeit der Politik. »Wir haben uns geeinigt und das zeigt: Die demokratischen Parteien dieses Landes sind handlungsfähig«, sagte der Grünen-Politiker am Dienstag in Stuttgart.
Auch inhaltlich lobte Kretschmann die Beschlüsse: »Wir sind an vielen Stellen gut vorangekommen auf dem Weg zu einer Ordnung in der Migrationspolitik.« Er sprach von »unglaublich harten Verhandlungen«: »Es war sicher eine der schwierigsten Ministerpräsidentenkonferenzen, die ich in meiner Regierungszeit gemacht habe.«
Die Regierungschefinnen und -chefs der Bundesländer und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatten bis in den Dienstagmorgen verhandelt. Ihre Einigung sieht eine Systemumstellung bei der Finanzierung der Flüchtlingskosten vor, vom kommenden Jahr an zahlt der Bund für jeden Asylerstantragssteller eine jährliche Pauschale von 7500 Euro. Auch sollen die Leistungen für Asylbewerber gekürzt werden. Wenn sich Verfahren hinziehen, sollen künftig nicht nur 18, sondern 36 Monate lang nur Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gezahlt werden. Zudem sollen Asylbewerber künftig einen Teil ihrer Leistungen in Form einer Bezahlkarte bekommen, die verhindern soll, dass Bargeld in die Herkunftsländer zurückgeschickt werden kann.
Die Einführung einer Bezahlkarte halten die Gemeinden im Land grundsätzlich für sinnvoll. »Dazu muss diese aber einfach und bürokratiearm eingeführt und idealerweise mit weiteren Datennutzungen zur Identität der Menschen und zu deren Stand des Asylverfahrens verbunden werden«, sagte Steffen Jäger, Präsident des Gemeindetags. Zudem seien die Finanzzusagen des Bundes unter dem, was nötig gewesen wäre. »Es steht zu befürchten, dass viele Kosten der Kommunen damit ungedeckt bleiben.«
Auch Landkreise in Baden-Württemberg sind mit den Beschlüssen nur teilweise zufrieden. Er erkenne durchaus »Trippelschritte in die richtige Richtung«, sagte der Präsident des Landkreistages, Joachim Walter. »Allerdings reichen die zwischen Bund und Ländern vereinbarten Maßnahmen ersichtlich nicht aus, um die selbst gesteckten Ziele einzulösen«, sagte Walter. Statt Prüfaufträge zu verteilen, hätte es aus Sicht der Landkreis klare Verabredungen gebraucht. »Etwa im Hinblick auf die Durchführung von Asylverfahren in geeigneten Drittstaaten«, so Walter.
Die von CDU, CSU und Grünen geführten Bundesländer hatten die Durchführung von Asylverfahren außerhalb Europas befürwortet. Der Beschluss sieht nun vor, dass die Bundesregierung prüfen soll, ob das möglich ist. Zudem sollen Asylverfahren schneller abgewickelt werden. Insbesondere bei Menschen aus Staaten mit einer Anerkennungsquote von weniger als fünf Prozent sollen diese in drei Monaten abgeschlossen sein.
Ob aber Asylverfahren außerhalb Europas überhaupt praktikabel sind, bezweifelt Kretschmann. »Ich persönlich sehe das sehr skeptisch und ich bin sehr skeptisch, wie das gelingen kann«, sagte er. Man dürfe diesen Punkt nicht überbewerten. »Der ist sehr voraussetzungsreich, auch was Verhandlungen betrifft«, sagte der Ministerpräsident. Es müsse etwa geklärt werden, ob es um Menschen gehe, die noch nicht in Europa seien oder auch um solche, die bereits hier seien. Zudem müsse ein Land gefunden werden, in dem die Verfahren durchgeführt werden könnten. Das müsse nun geprüft werden. »In solch einer schwierigen Situation sollte man Ideen, die andere haben, auch wenn sie komplex sind, nicht von vornherein ausschließen«, sagte Kretschmann.
Ganz anders beurteilt der Parteinachwuchs von Kretschmanns Grünen die Beschlüsse. Diese reihten sich »in den migrationspolitischen Rechtsruck der letzten Wochen ein«, teilten die Landesvorsitzenden der Grünen Jugend, Elly Reich und Anne Mann, mit. Der Vorstoß der Unionsländer und insbesondere Kretschmanns sei »katastrophal und gefährlich«. »Wir haben starke Zweifel daran, dass eine Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten praktisch umsetzbar oder rechtskonform ist«, sagten Reich und Mann.
Scharfe Kritik am Plan, Asylverfahren auch in Drittstaaten durchführen zu lassen, äußerte auch der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg. Die Politikerinnen und Politiker hätten »jeglichen moralischen Kompass verloren«. »Es ist absolut realitätsfern, dass solche Deals wirksam und vor allem menschenrechtskonform umgesetzt werden«, teilte der Flüchtlingsrat mit.
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