REUTLINGEN/BERLIN. Millionen Menschen haben bereits per Post die Wahlunterlagen für die Sozialwahl erhalten. Bis zum 31. Mai dürfen die 52 Millionen Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen und der Rentenversicherung ihre Stimme abgeben. Doch viele wissen gar nicht, warum es da geht und werfen den Wahlschein einfach in den Papierkorb. Bei der letzten Sozialwahl hat nur jeder Dritte seine Stimme abgegeben. Ein Überblick, worum es bei der Wahl geht und was man damit bewirken kann.
- Warum gibt es eine Sozialwahl?
Wer bei der Sozialwahl seine Stimme abgibt, der bestimmt damit, wer in den Sozialparlamenten der Rentenversicherung und der Krankenkassen die Interessen der Versicherten vertritt. Die Wahl findet alle sechs Jahre bei allen Trägern der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherung statt. Hintergrund ist das Prinzip der Selbstverwaltung wie es auch für ARD oder ZDF gilt, also den öffentlichen Rundfunkanstalten. Das heißt: der Staat schafft mit seiner Gesetzgebung nur den Rahmen, aber die Versicherten organisieren selbst die konkrete Ausgestaltung. Sie bestimmen mit, was mit ihren Beiträgen geschieht und was nicht.
- Wer kann gewählt werden?
Zur Wahl stehen keine politischen Parteien oder einzelne Kandidaten, sondern Listen. Das sind in der Regel Gewerkschaften, aber auch kirchliche Arbeitnehmerorganisationen oder zugelassene Gemeinschaften, in denen sich Versicherte organisiert haben. Auf dem Wahlzettel stehen keine Personen, sondern Organisationen, die Kandidaten in die Selbstverwaltung entsenden wollen. Deshalb gibt es auch keinen Wahlkampf im herkömmlichen Sinne. Bei den Krankenkassen gibt es in der Regel vier bis sechs Listen. Die Wähler haben eine Stimme, mit der sie eine Liste ankreuzen können. Im Juni sollen die Ergebnisse der Wahl vorliegen.
- Wer darf bei der Sozialwahl abstimmen?
Rund 52 Millionen Menschen sind in Deutschland wahlberechtigt. Abstimmen können Mitglieder der fünf Ersatzkassen (Techniker Krankenkasse, DAK-Gesundheit, Barmer, KKH und Handelskrankenkasse HKK) sowie der Deutschen Rentenversicherung Bund. Wer sowohl bei der Rentenversicherung als auch bei einer der Krankenkassen Beiträge einzahlt, darf also zweimal abstimmen.
Auch junge Menschen ab 16 Jahren dürfen wählen, wenn sie eigenständig versichert sind – zum Beispiel als Azubi. Anders als bei anderen Wahlen spielt die Staatsangehörigkeit keine Rolle. Auch Menschen ohne deutschen Pass dürfen ihre Stimme abgeben, sofern sie in Deutschland leben und Beiträge zahlen.
- Welche Rechte haben die Versichertenvertreter in den Sozialparlamenten?
Die Rechte der Versichertenparlamente unterscheiden sich. Bei der Rentenversicherung beschließt die Vertreterversammlung über den zweitgrößten öffentlichen Haushalt der Bundsrepublik in Höhe von rund 174 Milliarden Euro. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Gelder im Sinne der Versicherten eingesetzt werden. Gundula Roßbach, Präsidentin der Rentenversicherung, fasst gegenüber dem GEA die Rechte der Selbstverwaltung so zusammen: "In der Rehabilitation bestimmen sie etwa mit, welche Leistungen angeboten werden und welche Kliniken die Rentenversicherung betreiben soll.
Sie sorgen darüber hinaus für einen guten Service etwa mit mehreren Tausend Versichertenberatern in der Nachbarschaft. Daneben geht es viel um die Personalausstattung der Verwaltung, um den Haushalt und die Prüfung, ob die Beiträge korrekt verwendet werden. Ganz wichtig ist auch, dass in Widerspruchsverfahren immer ein Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber dabei ist und so direkten Einfluss auf die Entscheidung hat."
Bei den Krankenkassen entscheiden die Versichertenvertreter auch über Bonusprogramme, Wahltarife, die Aufnahme neuer Früherkennungsuntersuchungen, wer im Vorstand sitzt und wer die Versicherten bei Beschwerden und Widersprüchen berät.
- Warum steht die Sozialwahl in der Kritik?
Das liegt vor allem an der mangelnden Beteiligung und den vergleichsweise hohen Kosten. Bei der letzten Sozialwahl haben zwei Drittel der Versicherten gar nicht abgestimmt. Dem stehen Kosten von 50 Millionen Euro gegenüber, weil alle Versicherten angeschrieben werden müssen. Rentenpräsidentin Roßbach hält entgegen: » Ein Großteil der Kosten bei der Sozialwahl macht das Porto aus. Allein in der Rentenversicherung werden rund 30 Millionen Versicherte angeschrieben. Insgesamt sind es pro Person Kosten von etwas mehr als einem Euro, das ist nicht viel für eine Wahl. Das sind die Betriebskosten einer Demokratie.«
- Gibt es auch Vertreter, die ohne Wahl direkt in die Gremien einziehen?
Ja, das ist ein großer Kritikpunkt, der sich gegen die sogenannte Friedenswahl richtet. Sie wird bei vielen Krankenkassen wie etwa der AOK oder IKK durchgeführt. Arbeitgeber und Versichertenvertreter einigen sich bereits im Vorfeld, wer in die Gremien einzieht. Gibt es nicht mehr Bewerber als Mitglieder zu wählen sind, gelten die Vorgeschlagenen als gewählt. Eine Wahlhandlung im eigentlichen Sinn findet nicht mehr statt. Das habe wenig mit freier Wahl zu tun, wenn bereits vor der Wahl feststeht, wer in die Gremien einzieht, kritisiert der CDU-Bundestagsabgeordnete Kai Whittacker.
- Weiß man, wer für welche inhaltliche Position steht?
Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder von der Uni Kassel forscht schon lange zur Selbstverwaltung. Er sieht das Grundproblem bei der Sozialwahl in der fehlenden Transparenz: »Man hat eine enorme Vielfalt von Gruppen, bei denen nicht klar ist, was sie machen, woher sie kommen und wie deren Position ist. Zudem werden häufig Ex-Mitarbeiter über Wahllisten in wichtige Positionen gehievt.« Ein Beispiel: So hat sich etwa Dirk Fischbach für die Wahlliste »Barmer – Interessenvertretung der Versicherten« nominieren lassen. Er ist Hauptgeschäftsführer der Barmer Krankenkasse. Zudem findet sich auf der Barmer-Liste der Name Birgit Fischer. Sie ist ehemalige Gesundheitsministerin von Nordrhein-Westfalen. Das widerspricht der Idee der Selbstverwaltung und erweckt eher den Eindruck eines Lobbyvereins.
- Wie regieren die Krankenkassen auf die Kritik der Sozialwahl?
Um die Kosten zu senken und die Beteiligung bei jungen Menschen zu erhöhen, wird die Möglichkeit der Online-Wahl eingeführt. Zunächst als Modellversuch bei fünf Krankenkassen. Peter Weiß, Bundesbeauftragter für die Sozialwahlen, sagt gegenüber dem GEA: »Ich freue mich sehr, dass sich fünf Ersatzkassen dafür entschieden haben, bei den Sozialwahlen in diesem Jahr die Möglichkeit von Online-Abstimmungen anzubieten.« Weiß hat nach eigenen Angaben 20 Jahre für diese Neuerung gekämpft, was auch zeigt, wie strukturkonservativ das deutsche Gesundheitswesen ist. Nun können jedenfalls bei den fünf Krankenkassen (Techniker, DAK, Barmer, KKH und hkk) Versicherte in einem Modellversuch erstmals auch online wählen. Auf den Wahlunterlagen ist ein QR-Code vermerkt. Ihre Identität können Wähler per Versichertennummer auf der Gesundheitskarte nachweisen oder mit dem Personalausweis, sofern die Online-Funktion aktiviert ist. Ansonsten kann man auch einen Stimmzettel ankreuzen und in dem roten und bereits frankierten Umschlag zurückschicken.
- Warum wurde eine Frauenquote eingeführt?
Novum ist eine Frauenquote von 40 Prozent auf den Wahllisten der Krankenkassen. Bei den anderen Zweigen der Sozialversicherung gilt die 40-Prozent-Quote nur als Empfehlung. »Frauen werden anders krank, haben andere Bedürfnisse«, sagte Doris Barnett, stellvertretende Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen. »Deshalb ist es gut, dass wir die Geschlechterquote eingeführt haben.« (GEA)
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