REUTLINGEN. Einen Blackout soll es im Winter nicht geben, das hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann und auch der baden-württembergische Übertragungsnetzbetreiber TransnetBW erst kürzlich versprochen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Netzreserve. Doch wie funktioniert diese? Und was haben die Kohlekraftwerke damit zu tun? Denn ähnlich wie beim Atomausstieg ist der Kohleausstieg ja längst beschlossene Sache.
- Wie funktioniert das Stromnetz in Deutschland?
Alle Stromerzeuger und Stromverbraucher in Deutschland sind an das Verbundnetz angeschlossen. Der Strom wird ins Gesamtnetz eingespeist, egal ob er mit Erdgas, Öl, Kohle oder durch erneuerbare Energien erzeugt wird. Damit das funktioniert, müssen technische Vorgaben eingehalten werden. Der Strom wird von den großen Kraftwerken mit bis zu 380 000 Volt in das Verbundnetz übertragen. Das Mittelspannungsnetz liefert dann den Strom in den Regionen mit 20 000 Volt. Dort können dann auch kleinere Kraftwerke, wie sie etwa von manchen Stadtwerken betrieben werden, Strom einspeisen. In die Steckdose kommt der Strom dann über die Niederspannungsnetze mit 230 Volt.
Fünfzig Mal in der Sekunde muss sich im Wechselstrom zudem die Polarität ändern. Diese 50 Herz sind europaweit Standard. Abweichungen von diesen technischen Standards, etwa wenn plötzlich zu viel Strom verbraucht wird, oder zu viel Strom eingespeist wird, können zu einem Zusammenbruch des Netzes führen.
»Der deutsche Strommarkt tickt im 15-Minuten-Takt«
Dafür, dass das nicht geschieht, müssen die Übertragungsnetzbetreiber sorgen. In Deutschland gibt es vier solcher Netzbetreiber. Sie werden von der Bundesnetzagentur reguliert, sind aber eigenständig. Für Baden-Württemberg ist die TransnetBW zuständig. Dort wird das Stromnetz gemanagt und abgeschätzt, wann wie viel Strom zur Verfügung stehen muss, damit es nicht zu einem Blackout kommt. Damit der Strom aber letztlich zu den Haushalten kommt, dafür sorgen die Verteilnetzbetreiber, etwa die örtlichen Stadtwerke.
- Wie wird auf den aktuellen Strombedarf reagiert?
»Der deutsche Strommarkt tickt im 15-Minuten-Takt«, sagt Michael Reifenberg von der Pressestelle der Bundesnetzagentur. An den Strombörsen in Leipzig und Paris können langfristige und kurzfristige Strommengen gekauft werden.
Die Übertragungsnetzbetreiber, etwa die TransnetBW, benötigen zur Sicherstellung des Netzbetriebs eine Regelleistung. Diese schätzen sie langfristig ab und kaufen diese Regelleistung von den Strombetreiber auf dem separaten Regelleistungsmarkt. Die Verteilnetzbetreiber, etwa die Stadtwerke, hingegen kaufen für den kurzfristigen Bedarf Strom. Je nachdem wie viel Strom gerade produziert wird, ist er teurer oder günstig zu haben. Auf dem Strommarkt gibt es Produkte, die bis zu 15 Minuten vor ihrer Lieferung gehandelt werden können und so kurzfristige Bedarfe abdecken.
- Was ist die Netzreserve?
Die Netzreserve wird nur im Süden der Bundesrepublik benötigt. Das hat mit dem Aufbau des Stromnetzes und den Industriezentren im Süden zu tun.
Damit das Stromnetz auch im Winter stabil bleibt, müssen die Übertragungsnetzbetreiber – etwa die TransnetBW – die Netzreserve bilden. Das müssen sie nicht erst seit diesem Jahr, sondern schon seit 2013. Das Problem im Winter: Die Windkraftanlagen im Norden erzeugen dann besonders viel Strom, während der Strombedarf im Süden der Republik, in den Industriezentren, steigt. Leider kann es zu Netzengpässen bei der Übertragung von Strom vom Norden in den Süden kommen. Damit die Leitungen wegen dieses Ansturms nicht überlasten, müssen daher im Norden Anlagen zurück- und im Süden hochgefahren werden. Das nennt sich auch »Redispatch«. Das gelingt mit der Netzreserve. Gäbe es die Netzreserve nicht, würde das Stromnetz instabil, es käme zu einem Ausfall.
Die Netzreserve sind in der Regel Anlagen, die gerade nicht am Stromnetz hängen, oft schon zu Stilllegung angemeldet sind, wie etwa Kohlekraftwerke. Manche von ihnen sind komplett heruntergefahren, andere wiederum laufen ganz normal, nur speisen sie keinen Strom ins Netz ein.
- Wie viele Kraftwerke sind für die Netzreserve vorgesehen?
Aus einer Liste der Bundesnetzagentur, in der alle Kraftwerke aufgelistet sind, geht hervor, dass in ganz Deutschland 24 Kraftwerksblöcke für die Netzreserve vorgesehen sind. In Baden-Württemberg sind es elf. Sechs davon werden mit Braun- oder Steinkohle betrieben.
- Wann kommt die Netzreserve zum Einsatz?
Die Netzreserve wird dann aktiviert, wenn die vorhandenen Markt-Kraftwerke den Redispatch nicht leisten können, erklärt Annett Urbaczka, Pressesprecherin bei TransnetBW. Die Übertragungsnetzbetreiber, zu denen die TransnetBW gehört, planen den Energiebedarf schon einige Zeit im Voraus. »In der Regel bereits ein Jahr vorher. Aber auch einen Monat, eine Woche, ein Tag und auch im 15-Minuten-Takt während des Betriebs kann noch eingegriffen werden«, sagt Urbaczka. »Je näher wir an die Stunde kommen, zu der wir die Leistung benötigen, desto genauer wissen wir, welche Kraftwerke zur Verfügung stehen und welche wir brauchen.«
In Verträgen mit den Kraftwerksbetreibern ist geregelt, wie viel Kapazitäten diese als Netzreserve vorhalten müssen. Wird ein Redispatch nötig und dafür die Netzreserve gebraucht, melden die Übertragungsnetzbetreiber das bei den Kraftwerksbetreibern. »Unsere Prognosen zeigen Engpässe nicht erst kurzfristig an, sondern meistens schon mit einigen Tagen Vorlauf«, sagt Urbaczka.
- Wie wird die Netzwerkreserve aktiviert?
Die Hauptschaltleitung der TransnetBW in Wendlingen überwacht unter anderem, wie viel Strom in Baden-Württemberg erzeugt und gebraucht wird, und auf welchen Leitungen er fließt, erklärt Pressesprecherin Urbaczka. Wird festgestellt, dass die Netzwerkreserve benötigt wird, meldet sich die Hauptschaltleitung bei dem entsprechenden Kraftwerksbetreiber. »Die Kollegen in der Hauptschaltleitung kennen die Kraftwerke, wissen, wie viel Leistung diese liefern können und wie schnell das geht«, sagt Urbaczka.
- Gibt es in der Einsatzbereitschaft große Unterschiede bei den Kraftwerksarten?
»Grundsätzlich gibt es natürlich Unterschiede bei den verschiedenen Kraftwerkstypen«, erklärt Annett Urbaczka von TransnetBW. »Für uns ist bei der Anmeldung des Reservebetriebs aber nicht die Brennstoffart entscheidend, sondern die Vorlaufzeit. Das korreliert allerdings. Gaskraftwerke sind kurzfristiger hochfahrbar als Kohlekraftwerke«, sagt Urbaczka. Da Gas aber sehr viel teurer ist, als Kohle, wird je nach Situation versucht, Kohle zuerst einzusetzen. Allerdings hängt die Entscheidung, welches Kraftwerk für die Netzreserve eingesetzt wird, eben auch damit zusammen wie viel Leistung gerade im Netz für den Redispatch benötigt wird und wie schnell das geschehen muss. Ein Kraftwerk, das komplett heruntergefahren ist, braucht natürlich eine längere Zeit, um wieder einsatzfähig zu sein, als ein Kraftwerk, dass bereits läuft und lediglich hochgefahren werden muss.
»Gaskraftwerke sind kurzfristiger hochfahrbar als Kohlekraftwerke«
- Warum ist die Netzreserve in diesem Winter denn besonders wichtig?
»Die Sonderanalysen der Übertragungsnetzbetreiber haben gezeigt, dass im Winter unter Umständen zu wenig Stromerzeugung im Markt ist«, erklärt Annett Urbaczka von der TransnetBW. Grund dafür ist zum einen die Gasmangellage durch den Ukraine-Krieg. Andere Gründe sind aber auch die geringere Verfügbarkeit von französischen Atomkraftwerken, über den Sommer gab es außerdem durch die niedrigen Pegelstände der Flüsse Probleme beim Kohletransport, wodurch die Kohlekraftwerke Probleme bekamen. Hinzu kommen weniger Atomkraftwerke und auch Kohlekraftwerke durch den Atom- und Kohleausstieg. »Dadurch gibt es weniger steuerbare gesicherte Leistung«, sagt Urbaczka und betont, wie wichtig diese Steuerbarkeit ist, um die volatile Erzeugung aus erneuerbaren Energien auszugleichen und auf Netzengpässe reagieren zu können.
Durch die geringere Menge an Gas bekommen aber nicht nur die Kraftwerke, die Gas für die Stromerzeugung benötigen Probleme, erklärt Urbaczka. Dies kann auch dazu führen, dass Menschen, die bisher mit Gas geheizt haben, etwa auf den Heizlüfter umsteigen, der ebenfalls viel Strom benötigt. So wird der Stromverbrauch zusätzlich noch erhöht. All das kann dazu führen, dass das Stromnetz immer mehr belastet wird und ein Redispatch nötig wird, bei dem die Netzreserve einspringen muss.
- Warum wird nun über die Kohlekraftwerke in der Netzreserve diskutiert?
Deutschland will bis 2038 aus der Kohle aussteigen. Einige der Kraftwerke in der Netzreserve haben daher bereits ein Stilllegedatum. Wiederum andere sollten bereits komplett abgeschaltet werden. Doch dann kam der Ukraine-Krieg und mit ihm die Gasmangellage. Damit weniger Gas zur Verstromung eingesetzt wird, hat die Bundesregierung in diesem Juli das Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz, kurz EKBG, beschlossen. Es erlaubt Kraftwerksbetreibern, wie der EnBW, Kohlekraftwerke, die bislang nur noch für die Netzreserve vorgesehen waren, wieder regulär an den Markt zu nehmen. Somit soll statt mit Gas mit Kohle Strom erzeugt werden, um die Versorgung zu sichern. Allerdings wird der Kohleausstieg ausgebremst. In Baden-Württemberg hat die EnBW beschlossen, den Kohleblock RDK 7 in Karlsruhe nicht schon Mitte 2022 vom Netz zu nehmen, sondern bis zum Ende des Winters 2023/2024 am Netz zu behalten. (GEA)