Migrantinnen und Migranten werden in Deutschland aus Sicht von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier noch immer viel zu wenig gehört. »Alle, die zu uns gekommen sind, haben ihre Geschichte und ihre Geschichten mitgebracht«, sagte er am Sonntag bei der Verleihung des Schillerpreises der Stadt Mannheim an Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar. »Ich bin überzeugt, dass ihre Geschichten viel stärker Teil unseres gemeinsamen Wir werden müssen«, sagte der Bundespräsident. »Ihre Geschichten sind ein Teil von uns. Sie sind Teil unserer Geschichte und Teil unserer gemeinsamen Geschichte.«
Steinmeier wiederholte seine Ansichten, Deutschland sei ein »Land mit Migrationshintergrund« und Heimat gebe es auch im Plural - und erntete dafür Applaus. Er würdigte Özdamars Schaffen: »Sie spielen mit eigener Erinnerung und literarischer Erzählung und lassen mit der Sprache etwas ganz Neues entstehen: mit Ihrer sehr eigenen, funkelnden, poetischen, traurigen und sehr komischen, kurzum Ihrer überbordenden Sprache.« Özdamar »wohne« in der deutschen Sprache »und das so meisterhaft wie nur wenige, deren Muttersprache Deutsch ist«.
Die 76-jährige Özdamar stammt aus der Türkei, kam als 18-Jährige zum ersten Mal nach Deutschland und lebt heute zeitweise in Berlin. Zu ihren bekanntesten Romanen gehören »Ein von Schatten begrenzter Raum« sowie »Das Leben ist eine Karawanserei: hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus«. Für einen Auszug daraus erhielt sie 1991 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Erst vor drei Wochen wurde sie mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt, einer der wichtigsten literarischen Auszeichnungen im deutschsprachigen Raum.
Der Schillerpreis ist mit 20.000 Euro dotiert und wird alle zwei Jahre an Persönlichkeiten verliehen, »die durch ihr Schaffen zur kulturellen Entwicklung in hervorragender Weise beigetragen haben«. Er erinnert an das Wirken des Dramatikers Friedrich Schiller, dessen »Räuber« 1792 in Mannheim uraufgeführt wurden. Zu den Preisträgern zählen Friedrich Dürrenmatt, Dieter Hildebrandt und Nico Hofmann.
Anlässlich der diesjährigen Entscheidung hatte die Stadt erklärt: »Das Wirken von Emine Sevgi Özdamar ist in vielen Dimensionen Grenzen überschreitend.« Sie sei in vielen Ländern, Zeiten und Künsten zu Hause und wirke als Schauspielerin, Regisseurin und Autorin.
Özdamar erzählte, dass sie und ihr Bruder als Kinder Schillers Drama »Wilhelm Tell« in einer türkischen Ausgabe gelesen hätten und nachspielen wollten. Beide hätten der Titelheld sein wollen. Bei einem Besuch in Weimar als junge Frau habe sie Blumen aus dem ehemaligen Garten von Johann Wolfgang von Goethe gepflückt und in ihrem Tagebuch von 1976 auf ein Bild Schillers geklebt - vielleicht, so sagte sie, weil er auf dem Porträt »besonders schön aussieht«.
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