Zu wenige Fachkräfte und allein in Baden-Württemberg fehlen Zehntausende Kita-Plätze: Kindertagesstätten wie in Tübingen bauen bereits Stunden ab und schließen früher. Mit einem neuen Vorschlag will der Oberbürgermeister der Uni-Stadt, Boris Palmer, Bewegung in die Debatte um Personalmangel, Bildungsmisere und Flüchtlingsversorgung bringen. Aus seiner Sicht könnten ukrainische Flüchtlingskinder in Spielgruppen statt in Kitas betreut werden - so würde das System entlastet, sagt er in einem Gespräch mit der Wochenzeitung »Die Zeit«.
Erstaunlich: Die Not scheint so groß, dass sich diesmal kaum Widerstand regt, wenn der oft polarisierende Rathauschef sich äußert. »Das Gebot der Stunde heißt Pragmatismus«, sagte Migrationsministerin Marion Gentges (CDU) der Deutschen Presse-Agentur dazu.
Jeder Vorschlag, der darauf ziele, das Problem zu lösen, sei zunächst einmal ein guter Beitrag, der es wert sei, zu Ende gedacht zu werden, sagte Gentges. »Wir brauchen pragmatische und schnelle Maßnahmen, auch wenn es bedeutet, dass wir bei unseren selbst gesetzten hohen Ansprüchen Abstriche machen müssen.«
Auch der Gemeindetag Baden-Württemberg hält das Spielegruppen-Modell nicht für undenkbar. »Spielgruppen für ukrainische Kinder als zusätzliche Betreuungsform können sinnvoll sein, weil sie den Kindern den Kontakt zu anderen Kindern ermöglichen und Eltern stundenweise entlasten können«, sagte ein Sprecher der dpa. Langfristig müsse die Integration das Ziel sein. Heißt: »Dass Kinder mit Fluchterfahrung wie alle Kinder den Zugang zur frühkindlichen Bildung haben und die Möglichkeit bekommen, die deutsche Sprache und Kultur zu erlernen, um hier gut anzukommen.«
Palmer hatte in dem »Zeit«-Gespräch mit zwei betroffenen Eltern gesagt: »Momentan haben die Kinder von Geflüchteten das gleiche Recht auf einen Kita-Platz wie alle anderen. Da kann man Abstriche machen.« Wer neu in Tübingen ankomme, benötige nicht dasselbe Betreuungsangebot wie beispielsweise die alleinerziehende berufstätige Mutter, die bei dem Gespräch dabei war. Palmer sagte weiter: »Mir ist klar, dass mir so ein Vorschlag den Vorwurf der Diskriminierung einbringen würde, aber er entlastet die Kitas.«
Das Format der Spielgruppe gebe es in Baden-Württemberg schon sehr lange, hieß es nun beim Gemeindetag. Schon seit Beginn des Ukraine-Kriegs kämen solche Gruppen als ein erstes Angebot der sozialen Betreuung wieder verstärkt in den Blick. Städte und Gemeinden bräuchten »flexible Handlungsoptionen«, um trotz des Personalmangels in den Kitas eine verlässliche frühkindliche Betreuung zu ermöglichen. »Spielgruppen wie oben beschrieben, können für den Anfang die Kitas entlasten, aber auch sie sind für die Kinder keine langfristigen Optionen«, betonte der Sprecher.
Das Kultusministerium in Stuttgart verwies ebenfalls darauf, dass das Konzept der Spielgruppen nicht neu sei. »Auch bei der jetzigen Fluchtbewegung aus der Ukraine gehören diese zu den Betreuungsangeboten wie auch die neue Form der Kita-Einstiegsgruppen«, sagte ein Ministeriumssprecher. Langfristig sei es aber wichtig, dass zugewanderte Kinder integriert werden - und das bedeute vor allem, die deutsche Sprache gemeinsam mit hier geborenen Kindern zu erlernen. »Daher sind Spielgruppen mehr eine Not- denn eine Dauerlösung.« Der Sprecher wies außerdem daraufhin, dass von Beginn an kommuniziert worden sei, »dass eine Aufnahme ukrainischer Kinder im Rahmen freier Plätze möglich ist.«
Auch die SPD weist den Vorschlag aus Tübingen nicht zurück. »Kinder sind Kinder und brauchen ihre Kita«, sagte der SPD-Fraktionsexperte für frühkindliche Bildung, Daniel Born. Mit Blick auf den Mangel an pädagogischem Fachpersonal könne man aber überlegen, für Geflüchtete aus der Ukraine Spielgruppen einzurichten. »Für ukrainische Familien kann in der aktuellen Situation ein kurzes Betreuungsangebot schon hilfreich sein, das niederschwellig und flexibel Angebote für Kleinkinder und Räume zum Spielen bereitstellt«, sagte Born der dpa. Auf längere Sicht sei das keine Lösung.
Ein Pressesprecher der Grünen-Fraktion nannte den Vorschlag einen »alten Hut«. »Schon 2022 haben wir ein niedrigschwelliges Angebot geschaffen, um Kinder zu betreuen«, betonte der Sprecher. Wichtig sei, den Menschen aus dem Kriegsgebiet einen stabilen Rahmen in einer angenehmen Umgebung bieten zu können. »Wir Grüne setzen uns dafür ein, dass alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft eine gute Betreuung erhalten. Das ist richtig so, damit alle zum Start die gleichen Chancen haben.«
Für die FDP-Fraktion sagte der Sprecher für frühkindliche Bildung, Dennis Birnstock: »Angesichts der Tatsache, dass die Kindertagesstätten in Baden-Württemberg spätestens seit der Corona-Krise absolut am Limit arbeiten, kurzfristige Schließungen sowie lange Wartezeiten auf Kita-Plätze keine Seltenheit sind, kann die Unterbringung geflüchteter ukrainischer Kinder in Spielgruppen vor allem kurzfristig eine notwendige Entlastung der Kindertagesstätten und Eltern bedeuten.« Die Landesregierung dürfe sich dabei nicht hinter den Kommunen verstecken und müsse Städte und Gemeinden »durch flexible Regelungen« unterstützen. Die sozialpolitische AfD-Fraktionssprecherin Carola Wolle teilte mit, Palmers Vorschlag sei »voll und ganz zuzustimmen«.
Palmer hatte im Januar seine dritte Amtszeit als Oberbürgermeister Tübingens angetreten. Seine Mitgliedschaft bei den Grünen ruht bis Ende 2023 wegen eines Streits um Tabubrüche und Rassismusvorwürfe.
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