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Sind Bäume bessere Menschen?

Die Stuttgarter Fotokünstlerin Isabell Munck umrundet mit ihrer Kamera Buchen, Eichen und Tannen

Fotokünstlerin Isabell Munck auf der Waldau.  FOTO: LG/KOVALENKO
Fotokünstlerin Isabell Munck auf der Waldau. FOTO: LG/KOVALENKO
Fotokünstlerin Isabell Munck auf der Waldau. FOTO: LG/KOVALENKO

STUTTGART. Zwischen nassem Laub und Moos liegt die Wurzel eines gefällten Baums auf dem Waldboden. »Künstlerisch gesehen ist die jetzt völlig uninteressant«, sagt Isabell Munck nach kurzem Hinschauen. Das war auch schon mal anders. Erst vor zwei Jahren stand ihr ebenjene Wurzel Modell. Jetzt aber sei ein eigenwillig hervorstehender Teil des Holzes abgebrochen und das Objekt reizlos geworden.

In ihrem Stammwald in Degerloch kennt die Stuttgarter Fotokünstlerin gefühlt jeden Ast. Das Bild des Waldes ist ständig in Bewegung. Diese Wurzel zum Beispiel hätte vor kurzer Zeit noch ein paar Meter weiter entfernt gelegen, der Stamm eines anderen Baumes sei letztens auseinandergebrochen. Über die Bäume redet Munck fast wie über gute Bekannte. Einen Baum, dessen Stamm sich wenige Meter über dem Boden teilt, nennt sie »unfokussiert«, er sollte sich besser auf ein Ziel konzentrieren. Ein anderer habe gerade noch mal die Kurve bekommen und durch eine Krümmung im Stamm den Weg gen Sonnenlicht gefunden.

»Ich umarme keine Bäume«

Seit Jahren fotografiert Munck die Bäume in diesem Waldstück. Dafür hat sie eine ganz eigene Technik entwickelt. Mit ihrer Kamera umrundet die Künstlerin die Baumstämme und schießt dabei über 100 Einzelfotos aus allen Richtungen. Manchmal braucht allein das Fotografieren eines Baumes mehrere Tage, sagt sie. Die aufwendigste Arbeit liegt da allerdings noch vor ihr. Am Computer setzt Munck die Detailfotos Stück für Stück zu einem Gesamtbild zusammen. Bis zu 140 Stunden Arbeit stecken in jedem einzelnen ihrer Werke, erzählt sie.

Das Ergebnis sind Bilder, die erst mal irritierend wirken. Sie zeigen eine Perspektive, die es in der Realität so gar nicht gibt. Was vorher dreidimensional war, liegt nun flach vor einem. Man betrachtet alle Seiten des Baumes gleichzeitig, so als hätte jemand die Rinde entrollt und auf eine Leinwand gepinnt. Die Kunstwerke balancieren an der Grenze zwischen Realität und Fiktion. Munck nimmt keine Farbanpassungen vor und fotografiert nur bei bewölktem Wetter, um Lichteffekte zu vermeiden. Niemals würde sie übrigens ein Bild aus mehreren Bäumen zusammensetzen.

Dennoch erlaubt Munck sich, die Bilder nach ihren Wünschen zu verändern. An einer Stelle kann ein Ast verschwinden, an einer anderen ein Riss auftauchen, der aus dieser Perspektive eigentlich gar nicht zu sehen wäre. Ihre Kunstwerke sind keine Dokumentation des Waldes, sondern Ausdruck ihrer Vorstellungen. Munck ist gelernte Grafik- und Fotodesignerin. An der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart besuchte sie nicht nur die Kurse ihres Studiengangs, sondern auch verschiedenste Werkstätten. Dort lernte sie Techniken, die sie heute in ihrer Kunst verwendet. Neben den Bäumen inszeniert sie auch Wasser, Feuer und Eis.

»Ein Thema, das sich durch mein ganzes Werk zieht, ist das Werden und Vergehen«, erzählt Munck, während sie auf einen verwitternden Baumstumpf zusteuert, »das findet sich überall im Leben wieder, aber besonders hier im Wald.«

Der Stumpf zu ihren Füßen gehöre zum ersten Baum, den sie 2017 für ihre Reihe fotografiert habe. Damals hätte er noch stark und gesund ausgesehen, nur zwei Jahre später sei er umgekippt. Im toten Holz findet sich allerdings schon wieder Platz für neues Leben in Form von Moos und Pilzen. »Alles befindet sich im Fluss«, meint Munck. »Davon können auch wir Menschen uns nicht freimachen. Wir sind Teil des großen Ganzen.«

»Alles befindet sich im Fluss«

Wenn sie mit ihrer Kamera unterwegs ist, bleibt sie Beobachterin. »Ich umarme keine Bäume«, stellt sie klar. Munck ist keine Esoterikerin. Es gehe ihr darum, die Gewaltigkeit der Natur darzustellen und nicht darum, mit den Gewächsen in Kontakt zu treten. Ausgehend von ihrem Kunstprojekt hat sie begonnen, sich intensiver mit dem Wald auseinanderzusetzen. Sie las kreuz und quer Bücher zum Thema. Besonders häufig blieb sie bei Peter Wohlleben hängen. Der Förster und Naturschützer veröffentlicht populärwissenschaftliche Bücher über das »geheime Leben« der Bäume, die laut Wohlleben über ein Pilznetzwerk im Boden miteinander kommunizieren. Seine Thesen sind umstritten, Forscher kritisieren die Vermenschlichung. Isabell Munck zieht gerne Vergleiche zum Menschen. Bei einem Redewettbewerb stellte sie vor Kurzem eine provokante Frage: »Sind Bäume die besseren Menschen?« Eine klare Antwort darauf habe sie selbst nicht, meint Munck beim Spaziergang auf der Waldau. Man könne sich jedoch einiges abschauen von den Bäumen. Derzeit arbeitet Munck an einem Buch zu dem Thema. Auch ein Kurzfilmprojekt ist geplant.

Von April an werden Muncks Fotografien in einer Ausstellung, neben Skulpturen von Thomas Rappaport, im Zwischen-Kunst-Schauraum, Hohnerstraße 25, in Stuttgart-Feuerbach, zu sehen sein. Am Samstag, 5. April, 19 Uhr, findet eine Vernissage statt. (GEA)