Erst soll er noch einen Kaffee bestellt haben: Ein Ex-Soldat steht wegen Geiselnahme vor dem Landgericht Ulm. Dem 44-Jährigen aus dem nordrhein-westfälischen Iserlohn wird vorgeworfen, am Abend des 26. Januars bewaffnet in eine Starbucks-Filiale gegangen zu sein und mehrere Menschen in seine Gewalt gebracht zu haben. Vor Gericht gestand er und zeigte sich einsichtig.
Das Spezialeinsatzkommando (SEK) hatte die Geiselnahme am Ulmer Münster nach eineinhalb Stunden mit Schüssen beendet. Dabei verlor der Angeklagte seinen Unterkiefer. Laut Staatsanwaltschaft wollte der Ex-Soldat vom SEK erschossen werden. Er habe nicht damit gerechnet, dass er das überleben werde, sagte der 44-Jährige.
Vermeintliches Sturmgewehr
Nach 18 Uhr betrat der 44-Jährige am 26. Januar den Videoaufnahmen zufolge die Starbucks-Filiale. Auf den Aufnahmen vor Gericht ist zu sehen, wie er sich einen Kaffee bestellt und an einem Tisch Platz nimmt. Aus einer Reisetasche holte er laut Ermittlern täuschend echt aussehende Attrappen eines Sturmgewehrs und einer Pistole heraus. Auch zwei Messer hat er demnach dabei.
Einem jungen Paar in unmittelbarer Nähe schiebt er der Anklage zufolge einen Zettel zu: »Ihr beide geht jetzt und dann könnt ihr bitte die Polizei anrufen.« Weil das Paar nicht gleich tut, was der Ex-Soldat verlangt, zeigt er die Waffen, wie der Staatsanwalt berichtet. Als zwei Polizisten die Filiale betreten und den Mann auffordern, die Waffen wegzulegen, soll der Angeklagte gesagt haben: »Raus, sonst schieß’ ich.«
Auch zwei Kinder unter den Geiseln
Erst hält er mehr als zehn Menschen in Schach, sechs von ihnen nimmt er als Geisel - darunter auch zwei Kinder, die laut Anklage zu weinen anfangen. Nach und nach lässt er die Menschen gehen. Lediglich die Managerin behält er bei sich und verlässt mit ihr die Filiale - die Waffe an ihrem Nacken.
Nur 20 Zentimeter trennen die junge Frau und ihren Geiselnehmer als die Schüsse fallen. Aufgelöst und blutüberströmt nimmt sie die Polizei entgegen. Die Managerin ist als Nebenklägerin bei dem Prozess dabei. Dem Geiselnehmer sitzt sie während des ersten Verhandlungstages gegenüber.
Afghanistan-Trauma
Der Vater eines Sohnes diente eigenen Angaben nach von 2004 bis 2016 bei der Bundeswehr. Auch Auslandseinsätze in Afghanistan gehörten zu seinem Job. Die Einsätze seien sehr belastend gewesen, berichtete er vor Gericht. Raketenangriffe, Sprengfallen und Schüsse auf Kameraden hätten ihn traumatisiert. Er habe das Erlebte nach der Rückkehr nur mit Alkohol und Ablenkung in Spielhallen ertragen können. Das gemeinsame Baby habe ihn überfordert, seine Frau habe die Scheidung eingereicht.
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er wegen eines psychischen Ausnahmezustands zum Tatzeitpunkt vermindert schuldfähig war. Daher kommt auch eine dauerhafte Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus infrage.
Wieso Ulm?
Nach Weihnachten und Silvester im vergangenen Jahr habe er komplett den Lebensmut verloren. Den Plan, sich durch das SEK erschießen zu lassen, habe er schon Tage vor der Tat Ende Januar gefasst. Offen sei noch gewesen, wo. Die Geiselnahme in der Starbucks-Filiale sei spontan gewesen. Starbucks habe ihn an bessere Zeiten mit seiner Frau erinnert.
Am Tattag sei er in Iserlohn grundlos ins Auto gestiegen und einfach in Richtung Süden gefahren. Ulm habe ihn angezogen, weil es in der Stadt ein Bundeswehrkrankenhaus gebe, berichtete der gelernte Industriekaufmann. Er sei noch eine Runde um das Ulmer Münster spaziert, habe sich dann in einer Tiefgarage umgezogen und sei ins Starbucks gelaufen. Er habe niemanden verletzen wollen. Nun sei er für eine Therapie offen.
Ein Urteil könnte Mitte Oktober fallen.
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