STUTTGART. Martina Scherer, Landesvorsitzende des Philologenverbands, nennt es »einen Skandal«: Bereits am 13. Juni 1979 habe der baden-württembergische Landtag beschlossen, die Klassengrößen konsequent zu verkleinern, die Klassen aber, insbesondere am Gymnasium, seien mit bis zu 30 Schülern und mehr aber immer noch »viel zu groß«. »Von allen weiterführenden allgemeinbildenden Schularten hat das Gymnasium seit vielen Jahren die im Durchschnitt größten Klassen«, kritisiert Scherer und fragt: »Wie soll es da bei immer heterogenerer Schülerschaft seinem Bildungsauftrag gerecht werden?«
Warum sollen Klassen verkleinert werden?
Dass die Größe einer Klasse den Lernerfolg mitbestimme, sei inzwischen empirisch abgesichert, sagt Scherer. »Die Klassenteiler aller Schularten, insbesondere aber am allgemeinbildenden Gymnasium, müssen deutlich gesenkt und die Klassengrößen signifikant verringert werden, damit die Lehrkräfte wieder ausreichend Zeit für jede Schülerin und jeden Schüler haben.« Nur so sei individuelle Förderung möglich, auf den alle Schüler denselben Anspruch hätten. »Hier darf keine Schulart deutlich schlechter behandelt werden als andere, zumal durch den Umstieg auf G9 bald hunderte Lehrerdeputate für die Klassenverkleinerung zur Verfügung stehen werden«, so die Vertreterin der gymnasialen Lehrkräfte.
Auch die GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft) setzt sich seit vielen Jahren für kleinere Klassen ein. »25 Kinder sind genug« ist ein GEW-Slogan aus der 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts: »Und der Satz ist weiter richtig« betont die GEW-Landesvorsitzende Monika Stein und gibt zu bedenken: »Angesichts des Trends zur zunehmender Individualisierung sind kleinere Gruppen noch wesentlich notwendiger als es vor Jahren der Fall war.« Wirklich individuelles Fördern und Fordern ist laut GEW nur möglich, wenn die Lehrkraft auch in der Lage sei, einzeln auf die Kinder einzugehen.
»In Klassen mit 30 oder mehr Kindern ist das aber nicht möglich«, sagt Stein und kommt auf einen wichtigen Punkt in der Diskussion: Die Art des Unterrichts. Denn bedingt durch die Klassengrößen seien vor allem an den Gymnasien freiere Unterrichtsmethoden kaum durchführbar. »Am Gymnasium erzwingen der verbindliche Stoffdruck durch das Abitur und die Gruppengröße über weiter Strecken klassische, lehrerzentrierte Methoden«, gibt Stein zu bedenken. Zum Hintergrund: Bildungswissenschaftler kritisieren schon seit Langem den im deutschen Bildungssystem immer noch vorherrschenden Frontalunterricht. Statt Kompetenzen zu entwickeln, gehe es meist immer noch vor allem darum, sich auf die nächste Prüfung vorzubereiten. »Wenn die Gruppen kleiner sind, können alle Schüler in ihren unterschiedlichen Bedürfnissen wesentlich besser wahrgenommen und unterstützt werden«, ist die GEW-Vorsitzende überzeugt.
Was sagt das Kultusministerium?
Auf GEA-Nachfrage beim Kultusministerium, warum es im Land bei der Verkleinerung der Klassen immer noch keine Fortschritte gebe, schreibt Pressesprecher Jochen Schönmann: »Politik und Wirtschaft sind sich einig, dass die dringendsten Bildungsherausforderungen, nicht zuletzt im Sinne der Bildungsgerechtigkeit, im frühkindlichen Bereich und am Beginn der schulischen Karriere, in der Grundschule liegen.« Und genau dort setze die Landesregierung im Rahmen ihrer Bildungsreformen deshalb einen Schwerpunkt.
Erteilt das Kultusministerium nach dieser Aussage also der Weiterentwicklung in der Sekundarstufe II zugunsten der frühkindlichen Entwicklung eine Absage? Nicht ganz. So heißt es aus dem Ministerium weiter, durch die Umstellung der Landesregierung auf G9 würden die Gymnasien durch die neuen Innovationsschwerpunkte in den Bereichen Informatik, Medienbildung, Demokratiebildung, Berufsorientierung und Schülermentoring weiter gestärkt. »Damit fließen ganz erhebliche Mittel in diese Schulart. Einen Skandal können wir darin nicht erkennen«, so der Pressesprecher.
Warum sind die Klassen an den Gymnasien meist am größten?
Hier liegt die Antwort zum einen beim großen Zulauf der Gymnasien. Ungefähr die Hälfte der Schüler eines Jahrgangs gehen auf diese Schulform. In einzelnen Regionen ist der Anteil sogar noch deutlich höher. »Die Schulen sind in der Folge bis an oder gar über die räumlichen und personellen Kapazitäten gefüllt«, so GEW-Landesvorsitzende Stein. Zum anderen fehlten in bestimmten Fächern und Regionen aber Lehrkräfte. »Es müssten dringend mehr Lehrkräfte im gymnasialen Bereich eingestellt werden, auch wenn durch die Umstellung auf G9 zunächst weniger Lehrkräfte gebraucht werden.« Hier bestehe aber eher ein rein rechnerisches und keinesfalls ein pädagogisch begründetes Einsparpotential. Geeignete Bewerber gäbe es genug, so Stein.
Einen weiteren Grund nennt der bildungspolitische Sprecher der Grünen im Landtag und Reutlinger Abgeordnete, Thomas Poreski: »Eine faire Ressourcenausstattung muss sich vorrangig daran orientieren, welchen besonderen Herausforderungen sich die einzelnen Schulen stellen müssen: Wie ist die soziale Herkunft der Schülerinnen und Schüler, wie viele Kinder haben eine nicht deutsche Muttersprache, wie viele Leistungsniveaus und wie viele Schulabschlüsse werden abgedeckt - und was leisten die einzelnen Schulen für besondere Aufgaben, wie die Inklusion?« In all diesen Bereichen seien die Gemeinschafts- und die Realschulen deutlich mehr gefordert als die Gymnasien. Folgt man dieser Argumentation, ist es also richtig, dass die Klassengrößen an Gemeinschafts- und Realschulen kleiner ausfallen.
Woran hakt es?
Die Verbände sind sich einig: Es liegt am fehlenden Geld. Um kleinere Klassen zu ermöglichen »müssten mehr Lehrkräfte eingestellt und mehr in gute Bildung investiert werden«, sagt die GEW-Landesvorsitzende. Bildung in Baden-Württemberg habe aber bei weitem nicht den nötigen Stellenwert. Die Vorsitzende des Philologenverbands Scherer schlägt in dieselbe Kerbe: »Das ist ein politischer Entschluss, der mit Geld zu tun hat, denn kleine Klassen kosten eben Geld.« Ein bei klammen Kassen also nicht zu lösendes Dilemma? Scherer ist dieser Überzeugung nicht, meint: »Wenn die Politik etwa will, dann wird sie einen Weg finden.« (GEA)