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PH-Professor kritisiert Schulschließungen: »Uns gehen Kinder verloren«

Stefan Immerfall, Professor an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, äußert sich sehr kritisch zur Art der Schulschließungen. Für ihn ist diese die schlechteste aller Lösungen.

Die Schulen im Südwesten sind grundsätzlich geschlossen. Angeboten wird aber immer noch eine Notbetreuung.  FOTO: MURAT/DPA
Die Schulen im Südwesten sind grundsätzlich geschlossen. Angeboten wird aber immer noch eine Notbetreuung. FOTO: MURAT/DPA
Die Schulen im Südwesten sind grundsätzlich geschlossen. Angeboten wird aber immer noch eine Notbetreuung. FOTO: MURAT/DPA

SCHWÄBISCH GMÜND. Das Urteil des Experten fällt nicht gut aus. »Die Lösung, die für die Schulen in Baden-Württemberg gefunden wurden, ist mit Sicherheit die schlechteste.« Das sagt Stefan Immerfall, Professor an der Pädagogischen Hochschule (FH) Schwäbisch Gmünd, und damit Experte für Lehrerausbildung und Schulwesen. Er hat in seinen Studien sogar festgestellt, dass durch den Lockdown manche Kinder »verloren gehen«.

- Notbetreuung

Was er mit seinem harten Urteil meint, ist die coronabedingte Schließung aller Kitas und Schulen im Südwesten. Und eine gleichzeitig damit einhergehende Notbetreuung, die nicht mehr ganz so streng reglementiert ist wie noch im Frühjahr. Damals durften nur Eltern aus systemrelevanten Berufen ihre Kinder in die Notbetreuung schicken. Heute heißt es in der Verordnung nur noch, »Eltern müssen zwingend auf eine Notbetreuung angewiesen sein«. Das sei zwar für die Eltern durchaus erfreulich, räumt Immerfall ein, weist aber auf zwei bedenkliche Aspekte hin. Zum einen wurde schnell deutlich, dass viele Eltern diese Möglichkeit nutzen würden, was eben in den Schulen bei der Notbetreuung doch wieder zu vielen Kontakten führe. Auf dem Weg zur Schule im ÖPNV und in den Klassenzimmern selber. »Kinder sind zwar nicht als Treiber der Infektion bekannt, aber beteiligt sind sie an der Übertragung eben doch. Und deswegen ist es ja wichtig, die Kontakte zu minimieren«, so Immerfall.

Stefan Immerfall ist Professor für Soziologie an der PH Schwäbisch Gmünd und hat auch schon viele Jahre in den USA gelehrt.  FOT
Stefan Immerfall ist Professor für Soziologie an der PH Schwäbisch Gmünd und hat auch schon viele Jahre in den USA gelehrt. FOTO: PRIVAT
Stefan Immerfall ist Professor für Soziologie an der PH Schwäbisch Gmünd und hat auch schon viele Jahre in den USA gelehrt. FOTO: PRIVAT

- Dopppelbelastung

Als weiteren negativen Aspekt nennt der Hochschul-Professor die Doppelbelastung für Lehrer und Schulen. Die Lehrer müssen einen digitalen Fern-Unterricht vorbereiten, anbieten und kontrollieren, zusätzlich müssten sie auch einen Präsenz-Unterricht vorbereiten für die Kinder, die zur Notbetreuung in den Schulen erschienen. Die Schulen müssten zusätzliches Aufsichtspersonal rekrutieren. Außerdem würden, so Immerfall, bei der Notbetreuung Schüler und Schülerinnen verschiedener Klassen und Altersstufen zusammengefasst, die sonst im regulären Unterricht keinen Kontakt hätten.

- Politischer Aspekt

Dass es zu den Schulschließungen gekommen ist, obwohl sich Kultusministerin Susanne Eisenmann klar und deutlich dagegen ausgesprochen hat, wundert Immerfall nicht. »›Ober‹ sticht ›Unter‹, wie man bei uns in Bayern sagt«, erklärt der aus dem Nachbarland stammende Hochschullehrer mit einem süffisanten Lächeln. »Wenn’s hart auf hart kommt, wird Bildungspolitik, die ja Ländersache ist, von den großen Linien der Politik bestimmt. Die machen nun mal die Ministerpräsidenten, die sich da ungern von den Kultusministern Vorgaben machen lassen.« Immerfall verweist auf den März des vergangenen Jahres, den Beginn der ersten Welle, als die Kultusministerkonferenz eine Schulschließung beschlossen hatte und tags drauf die Runde der Ministerpräsidenten entschied, dass die Bildungseinrichtungen geöffnet blieben. Verstärkt werden diese Tendenzen im Südwesten natürlich durch den Landtagswahlkampf. Da möchte sich jeder und jede gerne als Entscheider oder Entscheiderin präsentieren.

- Ungelöste Probleme

Die Schulschließungen sind nun Tatsachen, aber »ein richtig toller digitaler Heim-Unterricht ist auch nicht möglich«, so Immerfall, der darauf hinweist, dass gar nicht ordentlich kontrolliert werden könne, ob auch alle Schüler am Fern-Unterricht teilnähmen, »von den fehlenden digitalen Endgeräten ganz zu schweigen«. Aber nicht nur auf Schülerseite seien da Defizite zu verzeichnen. Es gebe Schulen ohne WLAN, Schulen ohne Breitband-Anschluss. Auch für die Lehrer hätte man in den Sommermonaten in Sachen Didaktik, Inhalte und Fortbildung einiges machen müssen. Da sei das Kultusministerium in der Pflicht, aber auch die Gemeinden, »aber einer schiebt die Schuld auf den anderen«. Ergebnis sei jedenfalls, dass sich die Schere in Sachen Bildung weiter öffne, was sich später bei Arbeitsstellen und beim Einkommen ebenfalls niederschlage.

Immerfall hat mit seinen Lehramtsstudenten im Frühjahr Daten Hunderter von Klassen und Schülern ausgewertet und ist dabei auf eine weitere erschreckende Erkenntnis gestoßen: Einzelne Schüler sind verloren gegangen. Sie machen keine Hausaufgabe online, sie melden sich nicht bei ihren Lehrern, sie sind nicht mehr greifbar. Immerfall: »Das darf nicht passieren.« Lehrer, aber auch Sozialarbeiter müssten bei diesen Familien vorbeischauen, fragen, wo es hapert und Hilfe anbieten. Immerfall hat dem Kultusministerium vorgeschlagen, Studierende im Rahmen ihres Integrieren Semester-Praktikums (ISP) an den Schulen als »Kontakt-Scouts« einzusetzen. Das Ministerium hat abgewinkt. Immerfall: »Die sind da wenig flexibel, die wollen, dass so ein Praktikum absolviert wird wie schon immer in den letzten Jahrzehnten.«

- Lösungsvorschläge

Bei aller Kritik, was wäre denn Immerfalls Vorschlag für Unterricht in Corona-Zeiten? »Jetzt, da die Infektionszahlen hoch sind, die Winterferien verlängern. Im Sommer, wenn die Zahlen wieder runtergehen, die Ferien verkürzen. In der Zwischenzeit Wechsel-Unterricht. Eine Woche Schule, da haben die Kinder die sozialen Kontakte und bekommen klare Anleitungen. Die nächste Woche zu Hause, da werden Kontakte wieder runtergefahren, und jeder hat klare Aufgabenstellungen für das Lernen zu Hause mitbekommen. So werden die Kontakte reduziert, und eine Kontrolle über das Lernen und das Erlernte ist gegeben.« (GEA)