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Aktuell Justiz

Mit 94 Jahren noch ins Gefängnis?

Einer Stuttgarterin drohen wegen Subvenstionsbetrugs 45 Tage Haft. Eine Odyssee durchs deutsche Strafrecht

In welchem Gefängnis sollte eine demente Seniorin untergebracht werden?  FOTO: WITTEK/DPA
In welchem Gefängnis sollte eine demente Seniorin untergebracht werden? FOTO: WITTEK/DPA
In welchem Gefängnis sollte eine demente Seniorin untergebracht werden? FOTO: WITTEK/DPA

STUTTGART. Eine betagte Stuttgarterin läuft Gefahr, den Rekord für die älteste je in ein baden-württembergisches Gefängnis einsitzende Person einzustellen. Sie ist 94 Jahre alt, leicht dement, hat Pflegegrad 3 – und am 17. Dezember vorigen Jahres einen Formbrief der Bewährungs- und Gerichtshilfe erhalten, in der ihr mitgeteilt wird, dass ihr wegen einer nicht gezahlten Strafe nun Haft droht.

Diese Einrichtung wird von Gesetz wegen von der Staatsanwaltschaft beauftragt und muss binnen drei Wochen ihr Hilfsangebot unterbreiten. Das geschieht mit großem Engagement, aber sie verfügt nur über limitierte Möglichkeiten. 2023 hat sie aber in fast 4.500 Fällen rund 2.500-mal zumindest eine Tilgungsvereinbarung erreicht und dadurch dann Haftstrafen vermieden.

Anwalt spricht von Justizskandal

Die Anklagebehörde hatte beim Amtsgericht Waiblingen einen Strafbefehl in einem Fall beantragt, der nach Ansicht des Strafverteidigers Wolfgang Linder von der Stuttgarter Kanzlei Theumer & Wieland nie hätte erlassen werden dürfen. »Das ist ein Justizskandal«, so Linder. Seiner Mandantin sei das Recht vorenthalten worden, ihre Unschuld zu beweisen. Das wäre seiner Ansicht nach problemlos bei einer Verhandlung möglich gewesen, weil allein ihr Erscheinungsbild dem Direktor des Waiblinger Amtsgerichts, Michael Kirbach, und dem Ankläger vor Augen geführt hätte, dass diese Frau nicht in der Lage gewesen war, den Subventionsdschungel zu durchdringen und Anträge zur Corona-Soforthilfe zu fälschen.

Keine Alternative zur Haft

Erschwert wird die Lage der Verurteilten durch den Umstand, dass die Alternativen einer Haftstrafe für sie nicht in Frage kommen. Sie kann keine gemeinnützige Arbeit leisten, die Geldstrafe in Höhe von 6.300 Euro nicht bezahlen und die Rückzahlung der Coronahilfe von 9.000 Euro schon zweimal nicht leisten. So bleiben theoretisch nur 45 Tage Haft. Übrigens: Die älteste je in einem Landesknast verstorbene Person war 89.

Sollte das der Fall sein und wider Erwarten die Haftfähigkeit attestiert werden, was laut Anwalt Linder absurd wäre, stellt sich die Frage nach einer Unterbringung. Der Frauenknast in Schwäbisch Gmünd ist nach Ansicht von Experten ebenso ungeeignet wie das Seniorengefängnis in Konstanz. Im JVA-Krankenhaus auf dem Hohenasperg werden psychisch Kranke betreut. Eine Pflegestation gibt es dort nicht. Häftlinge, die außerhalb des Gefängnisses stationär in Kliniken untergebracht sind, werden von zwei JVA-Beamten bewacht. Ob man einen solchen Aufwand in einem Pflegeheim für die alte Frau betreiben würde?

So bleibt wohl, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Die Begnadigung müsste laut Linder das Amtsgericht Waiblingen aussprechen, also jene Instanz, die es für entbehrlich gehalten hat, den Hinweis der ermittelnden Hauptkommissarin ernst zu nehmen. Sie hatte schnell vermutet, »dass die Frau den Antrag auf Corona-Soforthilfe nicht gestellt hat. Sie war bei der Antragsstellung 89 Jahre«. Daher wurde sie auch nicht als Beschuldigte geführt.

Sohn hatte Generalvollmacht

Natürlich nicht, denn sie hatte ihre Heilpraktikerinnen-Praxis bereits im Jahr 1988 aufgegeben, aber ohne diese abzumelden. Sie erhielt nur ihre Rente. Ins Visier nahm man sie erst, als ihr ebenfalls verdächtigter Sohn gestorben war.

Denn er hatte eine Generalvollmacht von seiner bei ihm lebenden Mutter. Er stellte zwei weitere Anträge auf Soforthilfe im Namen seiner ominösen Dienstleistungsfirma, er war vielfach polizeilich in Erscheinung getreten, unter anderem wegen Urkundenfälschung. Und er weigerte sich, den von L-Bank ausgestellten Rückzahlungsbescheid zu akzeptieren, weil er »die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als legitimer/souveräner Staat ablehnt«.

Der laut der Polizei zur Reichsbürgerszene gehörige Verdächtige bezeichnete sich als »Staatsleugner, Hobbyjurist und Mitglied der Partei Freiheit für Deutschland«. Seine seitenlangen Pamphlete an die Adresse der L-Bank gingen in Kopie an das Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte, die US-Botschaft und die Botschaft der Russischen Föderation. Nicht auszuschließen, dass deren Agenten schnell zum Schluss gekommen wären, der Sohn habe einmal mehr seiner alten Mutter ein Formular zum Unterschreiben unter die Nase gehalten – in diesem Fall eben den Antrag für die Soforthilfe.

Berufung nicht zulässig

Anwalt Linder geht davon aus, dass dieser Fall im Schnelldurchgang ohne Aktenkenntnis entschieden wurde. Immerhin das Alter der Verurteilten war bekannt. Denn die lange Straffreiheit hat die Strafzumessung positiv beeinflusst. Der Richter würdigte im Urteil diese »nicht unerhebliche Leistung angesichts des hohen Lebensalters«.

Strafbefehle reduzieren die Zahl von Gerichtsverhandlungen. Das sei auch gut so, sagt Verteidiger Linder. Bei strittigen Fällen seien sie aber oft ungeeignet. Der 94-Jährigen blieb allerdings die Berufung – und damit der Auftritt vor dem Amtsgericht – versagt, weil ein Unglück selten allein kommt.

Verdächtiger war Reichsbürger

Der Strafbefehl wurde an die Adresse eines Anwalts im Osten Deutschlands versandt, mit dem ihr Reichsbürger-Sohn vertraut war, und dessen Absetzung daran scheiterte, dass die Verurteilte, ihre Tochter und der Enkelsohn zwei Vollmachten zur gegenseitigen Vertretung verwechselten und damit die Staatsanwaltschaft verwirrten. Der Jurist (angeblich vorübergehend aus technischen Gründen ohne elektronisches Anwaltspostfach) ignorierte die unsinnigerweise an dessen private Adresse zugestellte Urkunde.

Zu allem Übel landete die Kopie nicht im Briefkasten der alten Dame, sondern in dem des Nachbarn, der gerade im Urlaub war. Zu dem Zeitpunkt, als Anwalt Wolfgang Linder auf den Plan trat, war die Berufungsfrist längst abgelaufen. Er forderte dennoch Akteneinsicht und legte Widerspruch ein – der aber wegen Fristversäumnis abgewiesen wurde, ebenso seine Forderung nach Wiedereinsetzung des Verfahrens in den vorigen Stand. Schließlich soll jemand, der eine Frist unverschuldet versäumt hat, diese wieder in Kraft gesetzt bekommen, als ob er sie eingehalten hätte.

Alle Einsprüche vergebens

Letztlich scheiterte Linder mit seiner Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Sitz in der Landeshauptstadt, der seine guten Argumente gar nicht erst prüfte, weil er keine »Verletzung der gerügten Grundrechte« darlegen vermochte.

Es reiche nicht aus, Verfassungsverstöße durch die als falsch angesehen gerichtliche Entscheidung zu behaupten. Auch das mag der Verteidiger der hochbetagten Dame nicht nachvollziehen: Schließlich dürfen Fehler von Anwälten nicht der Mandantin zum Nachteil gereichen. »Ihr Grundrecht auf einen fairen Prozess wurde verletzt«, sagt Linder. Nun hofft er auf Milde. (GEA)