STUTTGART/BERLIN. Es ist das größte Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik. Auch die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) sprach nach der Verabschiedung des Startchancen-Programms im März von »einem Meilenstein«. In den kommenden zehn Jahren werde aus Bundes- und Landesmitteln nicht nur eine enorme Summe an baden-württembergische Schulen fließen, sondern erstmals auch ziel- und bedarfsgenau dorthin, wo Unterstützung am nötigsten sei, so Schopper. Das Anfang des Jahres von Bund und Ländern beschlossene Programm steht nun in den Startlöchern, im August soll es losgehen.
- Was ist das Startchancen-Programm?
Mit dem Startchancen-Programm wollen Bund und Länder den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft entkoppeln und für mehr Chancengerechtigkeit sorgen. Das Programm soll zum Schuljahr 2024/25 mit einer Laufzeit von zehn Jahren starten. Der Bund stellt hierfür bis zu eine Milliarde Euro jährlich zur Verfügung. Die Länder beteiligen sich in gleichem Umfang. Damit werden insgesamt 20 Milliarden Euro über zehn Jahre investiert. Ziel ist es, an den Schulen zu unterstützen, wo die Herausforderungen am größten sind.
- Warum ist das Programm überhaupt notwendig?
Hintergrund des Programms ist die Erkenntnis, dass Bildungschancen und der Bildungserfolg von Kindern in Deutschland immer noch stark von ihrer sozialen Herkunft und dem Migrationshintergrund abhängen. Bildungsstudien zeigen außerdem seit Jahren eine Abnahme der Kompetenzen im Bereich Lesen, in Mathematik und in den Naturwissenschaften. Im internationalen Leistungsvergleich PISA hatten die deutschen Schülerinnen und Schüler im Jahr 2022 ihr bisher schlechtestes Ergebnis erzielt.
- Welche Schulen sollen die Gelder bekommen?
Etwa 4.000 Schulen in Deutschland sollen zu Startchancen-Schulen werden. Das Geld soll vor allem an Schulen gehen, an denen besonders viele Schülerinnen und Schüler Unterstützung brauchen, der Anteil an sozial benachteiligten Schülern also besonders hoch ist. Bei der Auswahl soll mindestens der Anteil der Schüler, die von Armut betroffen sind oder eine Migrationsgeschichte haben, berücksichtigt werden. 60 Prozent des Geldes soll an Grundschulen, 40 Prozent an weiterführende Schulen gehen. Ausgewählt werden die Schulen von den Ländern. In Baden-Württemberg soll laut Landesregierung der bereits entwickelte Sozialindex bei der Auswahl der Schulen als Orientierung dienen.
- Wofür soll das Geld ausgegeben werden?
Die Fördermittel sollen vor allem in drei Dinge investiert werden: Erstens in eine bessere Ausstattung an den Schulen. Die Startchancen-Schulen sollen so zu modernen Lernorten mit gut ausgestatteten Klassenräumen umgebaut werden. Des Weiteren sollen die Mittel in die Schul- und Unterrichtsentwicklung gesteckt werden. Hier soll es den Schulen ermöglicht werden, ihre eigenen Ideen für einen besseren Unterricht umzusetzen. Sie könnten etwa zusätzliche Kurse anbieten, um Schüler zu fördern, die mehr Unterstützung brauchen.
Als Letztes soll das Geld für zusätzliches Personal zur Verfügung stehen. Es geht hier aber nicht um zusätzliche Lehrkräfte, sondern um Personen, die die Lehrkräfte in ihrer täglichen Arbeit unterstützen, es handelt sich hier also um den Ausbau multiprofessioneller Teams.
- Was ist als Ziel definiert?
Der Schwerpunkt des Programms liegt auf der Stärkung der Basiskompetenzen, das heißt auf den Grundkompetenzen in Deutsch und Mathematik. Genanntes Ziel ist es, die Zahl der Schüler, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch bisher verfehlen, bis zum Ende der Programmlaufzeit an den Startchancen-Schulen zu halbieren.
- Was sagen Bildungsexperten?
Dirk Zorn, Bildungsexperte bei der Bertelsmann Stiftung, nennt das Startchancen-Programm einen »Paradigmenwechsel für deutsche Schulen«. Erstmals würden in allen Bundesländern diejenigen Schulen mit einem Sozialindex identifiziert, die besonderer Unterstützung bedürfen. »Dieser Bruch mit dem bisherigen Prinzip Gießkanne ist wichtig, weil damit öffentlich anerkannt wird, dass bislang nicht alle Schulen über identische Lernbedingungen für ihre Schülerschaft verfügen.« Zorn kritisiert, dass die frühkindliche Bildung nicht berücksichtigt wurde, »wenn schon nur Schule, dann wäre ein alleiniger Fokus auf Grundschulen pädagogisch sinnvoller gewesen«. Mit Blick auf die Größe der Herausforderungen hält der Bildungsforscher die Ausgaben außerdem für nicht ausreichend.
Auch Monika Stein, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), begrüßt, dass »die Gelder nicht mehr mit der Gießkanne verteilt werden«. Das Programm leiste einen Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit, doch Stein sagt auch: »Es reicht aber nicht.«
Der Landesvorsitzende der Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand, meint: »Wenn es richtig umgesetzt wird, kann es die Chancengleichheit der Kinder und Jugendlichen an den betreffenden Schulen stärken.« Beifall findet bei Brand vor allem die Stärkung multiprofessioneller Teams. »IT-Fachkräfte, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen oder Schulpsychologen, die mit Traumata-Erfahrungen umgehen können, wären eine große Stütze.« In Singapur sei dieses Hilfsnetz an unterstützendem Personal an den Schulen längst Standard.
- Was bedeutet das Programm für Baden-Württemberg?
Nach Baden-Württemberg fließen pro Programmjahr aus dem Bund rund 134 Millionen Euro, die auf etwa 540 Schulen verteilt werden sollen. Das Land hat sich mit derselben Summe zu beteiligen. Zusammen könnten also in den nächsten zehn Jahren rund 2,6 Milliarden Euro in Brennpunktschulen fließen. Das Programm soll gestaffelt starten, Baden-Württemberg hat in einer ersten Tranche nun 222 Schulen ausgewählt. Darunter sind 153 Grundschulen, 16 Gemeinschaftsschulen, 21 Realschulen, 17 Haupt- und Werkrealschulen, 14 Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren und ein Gymnasium. (GEA)