TÜBINGEN/MÜNCHEN. Die BKK Provita bekommt ordentlich Gegenwind. Die Münchner Betriebskrankenkasse hat behauptet, es gebe deutlich mehr Impfnebenwirkungen, als offizielle Stellen vermelden. Zu demselben Schluss war die Tübinger Ärztin Lisa Federle bereits vor vier Wochen gelangt. Nun gehen eben diese offiziellen Stellen auf Abstand: Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) kritisiert die Angaben der Provita-Studie als »allgemein und unspezifisch«. Der Verband der niedergelassenen Ärzte (Virchowbund) unterstellt der »Schwurbel-BKK«, »Werbung in der impfkritischen Klientel« zu betreiben. Selbst der eigene Dachverband teilt mit, »die Daten stammen nicht aus unserem Hause«.
Von dem Entrüstungssturm zeigt sich Provita-Vorstand Andreas Schöfbeck unbeeindruckt. »Ich trage die Verantwortung für unsere Versicherten«, kontert er. »Mir geht es einzig und allein um die Aufklärung eines Sachverhalts.« Die Provita hat berechnet, dass allein in den ersten siebeneinhalb Monaten des Jahres 2021 216.695 BKK-Versicherte wegen Nebenwirkungen infolge einer Corona-Impfung behandelt wurden.
Die Daten beziehen sich laut Provita auf Arztabrechnungen von knapp elf Millionen Versicherten. Zum Vergleich: Für das gesamte Jahr 2021 verzeichnet das PEI auf Basis von 61,4 Millionen Geimpften bloß 244.576 gemeldete Verdachtsfälle. In der »erheblichen Untererfassung der Impfnebenwirkungen« sieht Schöfbeck eine »Gefahr für das Leben von Menschen«.
Der Virchowbund, der die rund 144.000 niedergelassenen Ärzte in Deutschland vertritt, hält die Provita-Analyse dagegen für »falschen Alarm«. Hinter dem »kompletten Unfug« vermutet der Bundesvorsitzende Dirk Heinrich »peinliches Unwissen oder hinterlistige Täuschungsabsicht«.
Ist es Kalkül?
Die Provita vermische »zwei völlig unterschiedliche Bereiche«: die Abrechnung ärztlicher Leistungen und die Meldung ans PEI. Bei ersterem spiele die »gesamte Bandbreite der erwartbaren, milden und vorübergehenden Folgen einer Impfung« hinein. Bei letzterem handle es sich um »über das übliche Maß hinausgehende Nebenwirkungen«. Dass er zu Art und Schwere der Beschwerden nichts sagen könne, räumt Schöfbeck zwar ein. Trotzdem: »Es ging den Leuten so schlecht, dass sie zum Arzt gegangen sind.«
Das lässt Heinrich nicht gelten, er wittert Kalkül: Die kleine Provita mit ihren 125 000 Versicherten, die sich selbst als »veggifreundlichste, nachhaltigste und erste klimaneutrale Krankenkasse Deutschlands« bezeichnet und Homöopathie als Kassenleistung anbietet, hofiere mit derlei »undifferenzierter Schwurbelei« ihre »impfkritische Klientel«.
CORONA-IMPFUNG MIT NEBENWIRKUNGEN
Was ist normal? Wann wird es gefährlich?
Dass nach einer Impfung Nebenwirkungen auftreten, ist normal. Doch manchmal wird es gefährlich. Das Robert Koch-Institut unterscheidet zwischen Impfreaktionen und Impfkomplikationen. Impfreaktionen treten häufig auf und sind erwünscht. Denn sie zeigen, dass das Immunsystem auf die Impfung reagiert. Sie fallen leicht aus und klingen schnell ab.
Zu den typischen Beschwerden nach einer Covid-Impfung gehören Schmerz, Rötung und Schwellung an der Einstichstelle. Möglich sind auch Müdigkeit sowie Kopf- und Gliederschmerzen. Impfkomplikationen treten selten auf und sind nicht erwünscht. Sie gehen über das übliche Maß einer Impfreaktion hinaus und schädigen die Gesundheit schwerwiegend. Darum müssen sie dem Paul-Ehrlich-Institut gemäß Infektionsschutzgesetz gemeldet werden. Nach einer Corona-Impfung sind vereinzelt Herzmuskelentzündungen und Blutgerinnsel im Gehirn aufgetreten. (GEA)
Soweit zum öffentlichen Kampfgeschrei. Doch zwischen den Zeilen werden versöhnliche Töne angeschlagen: Das PEI beispielsweise kündigt eine europaweite Studie an, mit der die Sicherheit von Covid-19-Impfstoffen auf breiterer Datenbasis untersucht werden soll. In die Auswertung werden nicht nur die offiziellen Impfquoten einfließen, sondern auch die Arztabrechnungen der Krankenkassen.
Auch der BKK Dachverband, der einschließlich der Provita 68 Betriebskrankenkassen vertritt, traut sich aus der Reserve: Lehnte er anfangs eine inhaltliche Stellungnahme ab, unterstützt er jetzt »ausdrücklich« die geplante PEI-Studie: Aussagen müssten auf der Basis valider Daten getroffen werden – »insbesondere bei Themen, die so emotional geladen sind, wie die Impfungen gegen das Coronavirus«. »Ziel muss sein, einen differenzierten Blick auf Impfreaktionen und Schweregrade zu erhalten und somit die Diskussion zu versachlichen.« (GEA)

