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Mehr Flüchtlinge, mehr Sorgen: Kretschmann will Verständnis

Um zu erfahren, wie sehr die Zuwanderung Geflüchteter die Menschen bewegt, muss man nicht auf den jüngsten Bürgerentscheid in Greifswald verweisen. Denn auch in Baden-Württemberg ändert sich die Stimmung. Die Landesregierung verweist allerdings nach Berlin und Brüssel.

Winfried Kretschmann
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, im Landtag. Foto: Bernd Weißbrod/DPA
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, im Landtag.
Foto: Bernd Weißbrod/DPA

Trotz der Sorgen, Ängste und anhaltenden Kritik im Land angesichts der stark steigenden Flüchtlingszahlen sieht Ministerpräsident Winfried Kretschmann seiner Regierung die Hände gebunden. »Wir sind sozusagen am Ende der Kette«, sagte der Grünen-Politiker am Dienstag in Stuttgart.

Baden-Württemberg erhalte die Flüchtlinge nach einem festen Verteilungsschlüssel. Es sei eine Pflichtaufgabe, diese Menschen aufzunehmen und zu versorgen. »Wir haben auf das, was da geschieht, nur einen mittelbaren Einfluss«, sagte Kretschmann weiter. »Aber das ganze Handling liegt bei uns, vor allem aber auch bei den Kommunen.«

Nach Angaben des Justiz- und Migrationsministeriums sind seit dem russischen Angriff auf die Ukraine vor mehr als einem Jahr rund 165.000 Geflüchtete aus der Ukraine nach Baden-Württemberg gekommen. Bis Ende Mai kamen im laufenden Jahr weitere 11.300 Asylbewerber dazu.

Mit der steigenden Zahl scheinen aber auch die Sorgen und die Ängste der Menschen im Südwesten zuzunehmen: Laut einer Umfrage haben 39 Prozent von ihnen häufiger den Eindruck, die Landesregierung stelle das Wohl der Flüchtlinge über das Wohl der Menschen insgesamt. »Dies ist für die Akzeptanz der Flüchtlingspolitik ein fataler Eindruck, der auch einen Nährboden für größere Unzufriedenheit und Unmut bilden könnte, als dies derzeit der Fall ist«, heißt es warnend in der Studie, die das Institut Allensbach im Auftrag aller Tageszeitungen in Baden-Württemberg erstellt hat.

Die überaus meisten Menschen beunruhigt die Lage laut Umfrage, einige von ihnen auch deutlich. Jeder Dritte ist sehr besorgt über die Entwicklung, weiteren 45 Prozent bereitet die Situation etwas Sorgen und nur 18 Prozent zeigen sich derzeit unbeeindruckt. Die angespannte Stimmungslage spiegelt sich nicht nur in Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern) wider, wo nach einem Bürgerentscheid keine städtischen Flächen an den Landkreis verpachtet werden dürfen, um Containerunterkünfte für Geflüchtete aufzustellen.

Außerdem sind die Menschen im Südwesten zunehmend überzeugt, dass die Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgeschöpft und die Kommunen überfordert oder auch nicht in der Lage sind, die Probleme in den Griff zu bekommen. Laut Umfrage sind 40 Prozent der Ansicht, Baden-Württemberg könne keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. »Insgesamt ist das Protestpotenzial in Baden-Württemberg beachtlich«, heißt es zudem in der Studie. Knapp jeder Dritte würde sich zur Wehr setzen, wenn in der näheren Umgebung eine größere Flüchtlingsunterkunft geplant wäre. Weitere 41 Prozent würden den Bau einer solchen Unterkunft hingegen auch bei sich vor Ort akzeptieren.

Dabei haben die weitaus meisten Menschen in Baden-Württemberg noch keine wirklichen Nachteile wegen der Flüchtlingssituation gehabt: Etwa jeder Vierte (26 Prozent) will aus diesem Grund Einschränkungen erfahren haben, die große Mehrheit (63 Prozent) verneint dies. Dennoch fühlt sich jeder dritte Baden-Württemberger am eigenen Wohnort wegen der Flüchtlinge nicht mehr so sicher wie früher. Jeder Zweite hingegen verspürt keine Veränderungen.

Verantwortlich machen die Menschen vor allem die Landespolitik, von der sie unter anderem ein konsequenteres Vorgehen zum Beispiel bei der schnellen Abschiebung von straffällig gewordenen Ausländern erwarten. Insgesamt bewerten nur 24 Prozent der Bevölkerung die Flüchtlingspolitik des Landes als positiv, 54 Prozent hingegen kritisch.

»Diese Probleme zu lösen ist sehr, sehr schwergängig«, verteidigte sich Kretschmann nun. »Deswegen muss man mit solchen Umfragen wirklich leben«, in denen sich »das ganze Grundrauschen dieses Problems« niederschlage. Seine Regierung bemühe sich, zu verdeutlichen, »dass wir einer humanitären Politik verpflichtet sind, so steht es im Grundgesetz«. Er betrachte dies auch als persönliches Anliegen: »Ich bin Christ, der Fremde ist uns der Nächste«, sagte Kretschmann. Auch stamme er aus einer Flüchtlingsfamilie. »Mein Bruder ist mit elf Monaten auf der Flucht gestorben, meine Eltern waren zwei Jahre in einem Internierungslager. Also auch persönlich setze ich mich für eine humanitäre Flüchtlingspolitik ein, das geht nur im Rahmen einer Ordnung.«

Für die aktuelle Version des »BaWü-Checks« hat das Institut für Demoskopie Allensbach im Juni 1002 Erwachsene in Baden-Württemberg befragt. Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg warf dem Institut vor, zum Teil mit fragwürdigen Kategorien zu arbeiten und die Lebensrealitäten von Menschen, die nach Baden-Württemberg geflüchtet sind, außen vor zu lassen. Auch dürfe die Skepsis gegenüber Flüchtlingen und der Politik nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich nach wie vor viele Menschen solidarisch mit geflüchteten Menschen zeigten.

© dpa-infocom, dpa:230620-99-120224/3