Baden-Württemberg drängt wegen der drohenden Corona-Welle im Herbst auf rasche Vorkehrungen und fordert ein Machtwort von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Streit mit der FDP. »Es muss ganz klar sein, dass wir uns von der FDP nicht mehr auf der Nase herumtanzen lassen«, sagte der Stuttgarter Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) der Deutschen Presse-Agentur. »Da muss jetzt auch mal ein bundespolitisches Machtwort gesprochen werden.« Die Ampel müsse vor der Sommerpause eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes vorlegen und damit die eventuell nötigen Maßnahmen wie Kontaktverbote ermöglichen. Es komme nun auf die verantwortlichen Regierungsparteien in Berlin an. »SPD und Grüne müssen sich gegenüber der FDP in diesem Punkt einfach durchsetzen.« Für Lucha steht fest: »Die FDP ist bei der Pandemiebekämpfung nicht unser Maßstab, sondern der verantwortungsvolle Umgang mit der Gesundheit der Menschen.«
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) setzt allerdings auf eine rasche Verständigung in der Ampel-Koalition. Mit Blick auf das Ende Juni erwartete Gutachten eines Sachverständigenrates zu den bisherigen Vorkehrungen sagte er am Dienstag im ARD-»Morgenmagazin«: »Ich glaube wir werden einen guten Kommissionsbericht bekommen. Wir werden uns dann sehr schnell einigen. Das Drama, auf welches jetzt alle warten, wird ausbleiben.« Lauterbach sagte weiter: »Und wir werden also für den Winter viel besser gerüstet sein, als es der ein oder andere jetzt vermutet.« Jedoch sind erste Konflikte schon absehbar. Zuletzt hatte sich FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann skeptisch zur Wiedereinführung einer Maskenpflicht geäußert, wenn die Corona-Infektionen weiter stark steigen.
Der baden-württembergische Grünen-Politiker Lucha will nun schnell Nägel mit Köpfen machen. »Wir wollen die gesetzlichen Grundlagen für ein Kontaktverbot, Maskenpflicht in Innenräumen und für 2G- und 3G-Maßnahmen, die wir erlassen können, wenn ein Infektionsrisiko so stark ist, dass wieder die Überlastung des Gesundheitswesens droht.« Das sei besser, als im Falle eines großen Ausbruchs wieder alles schließen zu müssen. »Wir wollen rechtzeitig reagieren können, um zu verhindern, dass es wieder zu einem vollständigen Erliegen des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und vor allem schulischen Lebens kommt. Das sind also rein präventive Maßnahmen.«
FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke hielt dem Grünen-Politiker »Panikmache« bei der Verlängerung des Infektionsschutzgesetzes vor. »Er muss sich halt damit abfinden, dass er in Berlin nichts zu melden hat«, sagte der Liberale. »Es war die FDP, die mit ihrer Lageeinschätzung im April recht behalten hat und dafür gesorgt hat, dass Menschen ihre Freiheitsrechte zurückbekommen, weil es die derzeitige Lage auch zulässt.« Rülke verwies darauf, dass es so gut wie keine schweren Fälle mehr in den Kliniken gebe. »Luchas Horrorgemälde waren Fakenews.«
Lucha will gemeinsam mit den unionsgeführten Ländern Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen bei der Konferenz der Gesundheitsminister in Magdeburg ab Donnerstag einen Beschluss herbeiführen, mit dem der Bund aufgefordert wird, schnell rechtliche, finanzielle und organisatorische Planungssicherheit für den Herbst zu schaffen. Neben den Schutzmaßnahmen fordern sie, die Testverordnung über Ende Juni hinaus »sachgerecht« zu verlängern. Lucha erklärte dazu: »Das anlasslose Testen von Personen ohne Symptome ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht richtig.« In dem Beschlussentwurf der Länder heißt es deswegen: »Es bedarf auch weiterhin kostenfreier und unbürokratischer Testmöglichkeiten, um insbesondere den Schutz im Umfeld von Einrichtungen für vulnerable Personen und Gruppen sicherzustellen.«
Lucha sieht trotz steigender Inzidenzen noch keine Sommer-Welle - anders als Lauterbach. »Wir haben ein erhöhtes Infektionsgeschehen aufgrund der veränderten Virusvarianten und weil die Menschen wieder mobiler sind und mehr Kontakte haben.« Noch sei das Gesundheitssystem aber nicht stärker belastet als in den vergangenen Wochen. »Das Wort Welle würde ich jetzt noch nicht benutzen«, sagte der Landesminister.
Wenn einzelne Ärzte vor einem Gesundheitsnotstand im Herbst warnten, sei das übertrieben. »Unsere Experten, mit denen wir dauerhaft im Gespräch sind, sagen: Wenn wir das Richtige tun, können wir die Lage beherrschen.« Es sei zwar richtig, dass das Gesundheits- und Pflegesystem, vor allem die Krankenhäuser, belastet sei. »Aber eine Warnung vor einem generellen Gesundheitsnotstand nehme ich von der organisierten Ärzteschaft derzeit nicht wahr.«
© dpa-infocom, dpa:220621-99-740179/4