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Kretschmann reicht den Eidgenossen die Hand

Es kriselt kräftig zwischen der Schweiz und der EU. Baden-Württemberg probiert sich als Brückenbauer - und will für den Nachbarn Druck machen in Berlin und Brüssel. Ministerpräsident Kretschmann erklärt bei einem Besuch vor Ort, was Wladimir Putin damit zu tun hat.

Winfried Kretschmann
Winfried Kretschmann (Bündnis 90 Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, spricht. Foto: Philipp von Ditfurth
Winfried Kretschmann (Bündnis 90 Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, spricht.
Foto: Philipp von Ditfurth

Ein Avatar, der genau so geschmeidig über die Tanzfläche schwingt wie Michael Jackson. Lichtstrahlen aus dem Himmel, die zeigen, wie gut oder schlecht es dem Wald geht. Zellen, die völlig neu programmiert werden, um Diabetes zu kontrollieren oder Blinde wieder sehen zu lassen. Muskelgewebe, das man gegen Inkontinenz in die Blase spritzt. Und ein Roboter, dessen Umarmung sich so flauschig, warm und echt anfühlt wie von Mama. Alles Projekte, an denen Forscher aus Baden-Württemberg und der Schweiz gemeinsam arbeiten. Diese Zusammenarbeit steht nun auf dem Spiel.

Denn die Gräben sind tiefer geworden zwischen der EU und der Schweiz, so tief wie lange nicht mehr. Die Schweiz ist kein EU-Mitglied, nimmt aber weitgehend am EU-Binnenmarkt teil. Vergangenes Jahr scheiterte aber ein Rahmenabkommen mit der EU am Widerstand der Eidgenossen. Damit sollten die Beziehungen in Wirtschaft, Wissenschaft und anderen Bereichen eigentlich geregelt werden. Nun hängt alles in der Luft.

Das schmerzt vor allem Baden-Württemberg als unmittelbar betroffener Nachbar. Die Schweiz ist einer der wichtigsten Handelspartner des Südwestens - bei den Exporten aus Baden-Württemberg steht das Land nach den USA und China etwa auf Platz 3. Mehr als 57.000 Grenzgänger pendelten 2020 von Baden-Württemberg in die Schweiz - das sind laut Staatsministerium 92 Prozent aller Pendler aus Deutschland in die Schweiz. 131 Hochschulkooperationen gibt es nach Angaben des Staatsministeriums zwischen den Nachbarstaaten.

Deshalb machte sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Donnerstag auf, die Schweiz in Krisenzeiten zu besuchen - zum nunmehr zehnten Mal. Der baden-württembergische Regierungschef spricht vor Ort gar von einer »Erosion« der Beziehungen. Das habe Folgen für Wirtschaft und Wissenschaft im Südwesten, warnt er. Kretschmann trifft den Regierungsrat des Kantons Zürich, Ernst Stocker, und besucht die ETH Zürich, eine der weltbesten technischen Hochschulen.

Baden-Württemberg will in Brüssel und Berlin als Brückenbauer für die Schweiz werben und sich für engere Beziehungen einsetzen. Der Ministerpräsident verspricht, sich dafür einzusetzen, dass die Schweiz in dem EU-Forschungsprogramm »Horizon« wieder voll assoziiert wird. Die Schweiz gilt bei dem EU-Forschungsprogramm derzeit nur noch als »nicht-assoziierter Drittstaat«. Für diese Länder gibt es kaum noch Finanzierungshilfen. Schweizer Forscher sind abgeschnitten von der Förderung.

Kretschmann will deshalb Druck machen - aus seiner Sicht schneidet sich die EU ins eigene Fleisch, wenn mit der Schweiz nicht schnell eine Lösung gefunden wird. Europa stehe im Wettbewerb mit China und dem Silicon Valley in den USA bei Forschung und Technologie, dem könne man nur durch enge Kooperation die Stirn bieten, sagt er. Man könne sich nicht erlauben, auf Forschungseinrichtungen wie die der Schweiz zu verzichten. Das müsse in Berlin und Brüssel verstanden werden.

Die EU wollte mit dem Rahmenabkommen die bisherigen bilateralen Verträge bündeln. Nach jahrelangen Verhandlungen verweigerte die Regierung in Bern aber die Zustimmung - es ging dabei unter anderem um Maßnahmen zum Schutz der hohen Schweizer Löhne und den Zugang von EU-Bürgern zu Schweizer Sozialkassen. Ohne Rahmenabkommen will Brüssel aber nun die bilateralen Abkommen nicht einzeln aktualisieren. Sie veralten dann und sind irgendwann nicht mehr anwendbar. Kretschmann plädiert in Zürich dafür, im Umgang mit der Schweiz nicht alles über einen Kamm zu scheren. Die Wissenschaft habe nichts mit dem Binnenhandel zu tun, sagt der Regierungschef.

Kretschmann setzt darauf, dass der russische Angriffskrieg von Präsident Wladimir Putin die Schweiz mit Europa wieder zusammenrücken lässt - so wie alle Demokratien des Westens. Europäische Länder, die die Werte von Freiheit, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit teilten, müssten nun enger kooperieren, »egal ob die in der EU sind oder nicht«, sagte der Grünen-Politiker. »Das ist die absolut zentrale Aufgabe, die wir haben.« Er sei aber zuversichtlich, dass die geänderten globalen Verhältnisse zu mehr Zusammenarbeit führen.

»Brückenbauer sind sehr wichtig«, sagte Regierungsrat Stocker, Vorsteher der Finanzdirektion des Kantons Zürich, nach dem Gespräch mit Kretschmann. Die Beziehungen zwischen Brüssel und der Schweiz müssten nun geregelt werden. Wie grenzüberschreitende Zusammenarbeit gelebt werde, sehe man an der Bodensee-Region. »Die Grenze nimmt man gar nicht wahr.« Die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und Baden-Württemberg seien so wichtig, dass man es sich nicht leisten könne, nicht zusammenzuarbeiten.

© dpa-infocom, dpa:220427-99-68522/5