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Kommunen warnen vor Stimmungsumschwung: Bund muss handeln

Zehntausende Geflüchtete und Migranten nimmt der Südwesten auf. Sie müssen untersucht werden, sie müssen ein Dach über dem Kopf bekommen und im besten Fall eine Ausbildung erhalten. Die Kommunen warnen schon lange. Nun appellieren sie an den Bund - und werden deutlich.

Geflüchtete
Geflüchtete warten in einer Schlange vor einer Essensausgabe. Foto: Stefan Puchner
Geflüchtete warten in einer Schlange vor einer Essensausgabe.
Foto: Stefan Puchner

Es ist so etwas wie ein Hilfeschrei der Kommunen und Kreise. Ein lauter zwar, aber es gibt bereits Zweifel am Nachhall des jüngsten Forderungskatalogs zur Flüchtlingspolitik von Bund und Ländern. Darin appellieren die großen kommunalen Dachverbände angesichts steigender Zahlen von geflohenen Menschen aus der Ukraine und anderen Ländern an die Verantwortung des Bundes und warnen vor einer sinkenden Akzeptanz der Menschen im Land. Die Kommunen müssten entlastet sowie die Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge neu organisiert werden, fordern Gemeinde-, Städte- und Landkreistag.

Der Bund trage die Verantwortung für die Asylverfahren und sei als Gesetzgeber zuständig für die Zugangsregeln. Doch einzig die Länder und Kommunen schüfen die Aufnahmekapazitäten, bemängeln die Verbände in der »Stuttgarter Erklärung für eine realitätsbezogene Flüchtlingspolitik«. Das gelte auch für Menschen, die keine Bleibeperspektive hätten. Der Bund solle »eine eigene operative Verantwortung bei der Aufnahme der nach Deutschland flüchtenden Menschen übernehmen«, fordern die Kommunen und Kreise. »Wir brauchen eine Konsequenz in beide Richtungen.« Es dürfe nicht nur gefördert, es müsse auch eingefordert werden.

Die kommunalen Dachverbände fordern unter anderem nationale Ankunftszentren, in denen Flüchtlinge erfasst, registriert und auf die Bundesländer verteilt werden könnten. Dort müsse auch schneller geprüft werden, ob sie überhaupt bleiben dürften. Sei das nicht der Fall, müssten sie direkt aus den Ankunftszentren heraus abgeschoben werden, heißt es in einer der zwölf erhobenen Forderungen der Verbände. »Dies würde die Rückführung vereinfachen und zugleich die erforderliche Rückführungskonsequenz verdeutlichen.«

Flüchtlinge sollten nur noch weiterverteilt werden, wenn sie eine Bleibeperspektive hätten. Notwendig sei es zudem, bestehende Abschiebe-Abkommen mit anderen Staaten zu erweitern oder Gespräche mit neuen Herkunftsstaaten aufzunehmen, fordern die Kommunen und Kreise.

Allerdings hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann Zweifel, ob solche nationalen Ankunftszentren hilfreich sein könnten. »Ich kann nicht erkennen, wo da jetzt ein Gewinn ist, jedenfalls nicht spontan«, sagte der Regierungschef. Bereits heute liefen die Verfahren über die Landeserstaufnahmestellen, sagte der Grünen-Politiker. Außerdem stammten fünf von sechs Flüchtlingen aus der Ukraine und blieben gar nicht in den Ankunftszentren.

Vor dem Hintergrund des massiven Fachkräftemangels muss aus Sicht der Kommunen zudem Druck gemacht werden auf Geflüchtete, die arbeiten oder sich gemeinnützlich engagieren können. Erwerbsfähige Geflüchtete, die keine Arbeitsstelle erhalten, sollten grundsätzlich verpflichtet werden, »einer Tätigkeit im öffentlichen Interesse« nachzugehen, zum Beispiel im Alten- und Pflegebereich und verbunden mit einem Sprachkurs. »Die Ausübung derartiger Tätigkeiten kann eine gute Basis für eine anschließende Berufsausbildung oder Berufstätigkeit und damit für eine gelingende Integration sein«, argumentieren die Verbände.

Aus Sicht des Stuttgarter Oberbürgermeisters Frank Nopper könnten Flüchtlinge auch in der Pflege von Grünflächen, in der Straßenreinigung oder in Küchen arbeiten. Viele Geflüchtete blieben über Jahre hinweg ohne Ausbildung oder Beruf und seien auf staatliche Transferleistungen angewiesen, sagte der CDU-Politiker. Diese Situation sei auf Dauer nicht tragbar. »Dieser Zustand dürfte auch nicht im Interesse der Geflüchteten liegen«, fügte Nopper hinzu.

Zusätzliche Wohnungen, mehr Kitaplätze und bessere Schulversorgung seien nötig, fordern die Verbände weiter. Auch sehen sich die Kreise, Städte und Gemeinden vom Personalmangel zusätzlich ausgebremst. »Der massive Fach- und Arbeitskräftemangel schlägt hier voll durch, und zwar in allen Bereichen - von den Ausländerbehörden über die Jugendämter bis zur Verwaltung von Immobilien«, beklagen sie in der Erklärung. Standards müssten gesenkt, bürokratische Verfahren vereinfacht werden. Als Beispiele nennen die Verbände die Anforderungen an die Unterbringung von älteren unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die Abrechnung von Flüchtlingskosten und die Dokumentationspflicht.

Das Dilemma zwischen der humanitären Pflicht und dem faktisch Möglichen werde immer größer, heißt es warnend in der Erklärung. Selbst die in großer Zahl zusätzlich geschaffenen Kapazitäten seien nahezu und fast überall erschöpft, Mitarbeiter am Rande ihrer Leistungskraft, Kitas und Schulen überlastet. Sei die Stimmung zu Beginn noch getragen gewesen von einer große Bereitschaft der Zivilbevölkerung, Wohnraum und Unterkunft zur Verfügung zu stellen, so könne diese Stimmung schwanken. »Die Gefahr, dass sich die Akzeptanz für Migration in der Gesellschaft merklich verschlechtern wird, ist leider reell«, warnen die Kreise und Kommunen.

Stuttgarter Erklärung

© dpa-infocom, dpa:230307-99-856200/5