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Kokain-Konsum steigt stark an

Lange galt Koks als Droge der Reichen und Berühmten, mittlerweile ist die Zahl der Delikte stark gestiegen

Auch in Stuttgart hat der Konsum von Kokain stark zugenommen.  FOTO: IMAGO
Auch in Stuttgart hat der Konsum von Kokain stark zugenommen. FOTO: IMAGO
Auch in Stuttgart hat der Konsum von Kokain stark zugenommen. FOTO: IMAGO

STUTTGART. Die Mengen an Kokain, die in diesem Jahr in Deutschland und in Europa sichergestellt wurden, wurden in zweistelligen Tonnenangaben verzeichnet. Dabei erfassen die Fahndungserfolge nur die Spitze des enormen Kokainberges. Auch in Stuttgart wird die Droge seit Jahren immer breiter konsumiert. Im September wurde ein 31 Jahre alter Dealer am Landgericht verurteilt, weil er 18,5 Kilogramm des weißen Pulvers hier verkauft hatte. Der Vorsitzende Richter sprach von »Champions-League-Niveau«.

In welchem Umfang die stimulierende und euphorisierende Droge in der Landeshauptstadt tatsächlich konsumiert wird, lässt sich nur schwer sagen. Da es sich um ein »Kontrolldelikt« handle, kenne man nur die »Hellfeldfälle«, sagt Hendrik Weiß, der Leiter des Rauschgiftdezernats der Stuttgarter Polizei. Das meiste bleibt im Verborgenen, unentdeckt im privaten Raum. Dennoch haben die Rechtsverstöße im Zusammenhang mit der verbotenen Substanz im Vorjahr auch in Stuttgart deutlich zugenommen. Obwohl die Zahlen der Rauschgiftdelikte 2023 insgesamt um 6,1 Prozent auf 5.511 Fälle gesunken sind. Bei Kokain allerdings hat die Polizei in der Kriminalitätsstatistik ein Plus von 9,4 Prozent auf 491 Fälle ausgewiesen.

Einen Indikator, wie sehr Kokain sich wachsender Beliebtheit erfreut, liefert die Statistik der ärztlichen Behandlungen in Folge von Kokain-Konsums. So registrierte die AOK Stuttgart-Böblingen 2023 in Stuttgart 334 solcher Fälle, das sind 29 Prozent mehr als 2019 (mit 259 Betroffenen). Bundesweit haben sich – nach einer Auswertung des Barmer-Instituts für Gesundheitsforschung – die ärztlichen Behandlungen wegen Kokainmissbrauchs seit 2013 »mehr als verdreifacht«. Die größte Gruppe unter den Konsumenten sind Männer im Alter zwischen 20 und 39 Jahren.

Ein Bruchteil des Geschehens

»Das hat sehr stark zugenommen«, sagt auch Maurice Cabanis, der Ärztliche Direktor der Klinik für Suchtmedizin und Abhängiges Verhalten am Klinikum der Stadt. Allerdings bilden selbst diese Zahlen nur einen Bruchteil des Geschehens ab. »Die Dunkelziffer ist extrem hoch, es suchen nur sehr wenige Betroffene Hilfe«, sagt Cabanis, der auch Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin ist. Für die gute Konjunktur von Kokain gibt es verschiedene Gründe. »Die Verfügbarkeit wird immer einfacher«, sagt der Suchtmediziner über das weiße Pulver, das am häufigsten als feine Linie mit einem Röhrchen in die Nase gezogen – »gesnieft« – wird.

Seit den späten 2000er-Jahren ist Kokain die weltweit am zweithäufigsten geschmuggelte illegale Droge, die Produktionsmengen in Südamerika und insbesondere in Kolumbien sind enorm. Bis heute wird Kokain, das stimmungsaufhellend und euphorisierend wirkt, ein Gefühl gesteigerter Leistungsfähigkeit und Aktivität gibt sowie Hunger und Müdigkeit vertreibt, als Partydroge und zur Leistungssteigerung eingesetzt. Nur lässt das High rasch nach, bald muss nachgelegt werden. Seit den 1980er-Jahren war Kokain zunächst noch eine Schickimicki-Droge der Schönen, Reichen und Erfolgreichen. Man denke an die Kokain-Affären des Sängers Konstantin Wecker und des Moderators Michel Friedmann. Heute sind nicht nur sehr große Mengen im Handel, Kokain sei auch »relativ gut finanzierbar«, sagt Maurice Cabanis.

In den 1990er-Jahren kosteten 0,2 oder 0,3 Gramm Koks etwa 80 Mark, sagt Hendrik Weiß. Heute bekomme man ein halbes bis ein Gramm für 60 bis 80 Euro, berichtet der Leiter des Rauschgiftdezernats. Und dank Internet müsse man niemanden mehr kennen, sich nicht in Gefahr und an unerfreuliche Orte begeben. Man müsse nicht einmal mehr ins Darknet, um »Schnee« zu bekommen. Kontakte, etwa über einen Telegram-Kanal, reichen. »Dadurch ist die Hemmschwelle absolut gesunken«, sagt Hendrik Weiß. Und mit ihr das Unrechtsbewusstsein. Zumal auch Musikgrößen, etwa aus der Rap-Szene, den Konsum verklären.

Manche steigen auf Crack um

Dennoch werden in der kommenden Kriminalstatistik die Kokain-Fälle womöglich wieder deutlich geringer ausfallen, sagt Hendrik Weiß. Das hat dann wahrscheinlich mit der Teillegalisierung von Cannabis seit April zutun. Oft war festgestellter Kokain-Besitz »Beifang« bei Drogenkontrollen, etwa wenn Beamte durch eine Cannabis-Schwade auf Konsumenten aufmerksam wurden, die auch Kokain in der Tasche hatten. Heute kann die Polizei hier nicht mehr handeln, nach der Teillegalisierung wäre dies ein anlassloses Eingreifen. Nur: »In gewissen Kreisen sind die beiden Drogen eng verbunden«, erklärt der Leiter des Stuttgarter Rauschgiftdezernats. Das zeigt auch der Fall des 31-jährigen Dealers: Der hatte laut Gericht nicht nur mit 18,5 Kilogramm Kokain, sondern auch mit rund 275 Kilogramm Marihuana gehandelt. Bei den Angeboten im Internet sind oft alle Drogen nebeneinander zu haben. Mitunter würden Käufer sogar mit Kokain »angefüttert«, erzählt Hendrik Weiß, etwa indem in einer Lieferung von Cannabis »eine Probe mitgeschickt wird«. Angesichts solcher Fälle und den stark gewachsenen Deliktzahlen spricht der Leiter des Rauschgiftdezernats von einem »dynamischen Prozess – da müssen wir gut aufpassen.« Das sieht auch Maurice Cabanis so. Noch sei Kokain gut zu bekommen und die Konsumenten in Stuttgart könnten es sich offensichtlich leisten. Sollte beides einmal nicht mehr der Fall sein, bestehe die Gefahr, dass die Kunden auf Crack umsteigen.

Das auf der Basis von Kokain hergestellte Rauschgift ist billiger, sein Suchtpotenzial aber weitaus höher: ein Persönlichkeitszerfall und die Verelendung der Abhängigen geht rasant vor sich. Die Betroffenen seien »nur schwer erreichbar«, sagt Suchtmediziner Cabanis. Was das gesellschaftlich bedeutet, lässt sich an schlimmen Verhältnissen etwa im Frankfurter Bahnhofsviertel studieren. Experten warnen: Crack sei in deutschen Großstädten weiter auf dem Vormarsch. (GEA)