STUTTGART. Eine böse Überraschung gab es diese Woche für viele angehende Lehrkräfte an allgemeinbildenden Gymnasien: Mehr als die Hälfte von ihnen wird voraussichtlich nicht übernommen. »Frust, Perspektivlosigkeit und Unmut« machten sich deshalb unter Lehrkräften und Referendaren im Land breit, heißt es in einem offenen Brief, der diese Woche auf change.org, einer Online-Plattform für Petitionen, veröffentlicht wurde. »Obwohl seit Jahren öffentlich von gravierendem Lehrkräftemangel gesprochen wird, spiegelt sich diese Einschätzung nicht in der tatsächlichen Einstellungspraxis wider«, kritisiert darin die Initiatorin. Dies und andere negativen Erfahrungen, führten zu dem Eindruck, »dass gut ausgebildete, engagierte Lehrkräfte in der aktuellen Einstellungspolitik nicht ausreichend wertgeschätzt werden«.
Für viele überraschend, werden wegen der Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium (G9) in den kommenden Jahren zunächst weniger Lehrkräfte an den Gymnasien im Land benötigt. Zur Erklärung: In den ersten Jahren des Übergangs werden weniger Lehrkräfte gebraucht, weil Schülerinnen und Schüler in den unteren G9-Klassen weniger Unterricht pro Woche haben als bei G8. Nach Berechnungen des Kultusministeriums werden bis zum Schuljahr 2030/2031 daher knapp 1.600 volle Stellen weniger benötigt. Erst im Jahr 2031/2032 ändert sich das dann langsam und im Schuljahr darauf werden auf einen Schlag 860 mehr Stellen als heute gebraucht. Vor diesem Hintergrund werden laut Ministerium zum kommenden Schuljahr daher nur rund 360 Stellen besetzt. Dem stehen den Angaben zufolge aber rund 1.500 Bewerber gegenüber.
Sorge vor Abwanderung in andere Bundesländer
Der Philologenverband schlug daher Anfang der Woche Alarm: »Es ist grotesk: Erst lassen wir die Besten der Besten in der Warteschleife zappeln – und ab 2032 wird dann jeder gebraucht, der geradeaus unterrichten kann. Wenn das keine bildungspolitische Geisterfahrt ist, was dann?«, kritisierte Landesvorsitzende Martina Scherer. Und auch Stefanie Schrutz, Landesvorsitzende der Jungen Philologen (JuPhis), zeigte sich empört: »Unsere Nachwuchslehrkräfte haben jahrelang alles gegeben – und jetzt heißt es, sie werden gerade nicht gebraucht. Wer so mit Talenten umgeht, darf sich nicht wundern, wenn die besten Köpfe in andere Bundesländer, ins Ausland oder in die freie Wirtschaft abwandern.«
Und auch aus der Politik kommen kritische Stimmen. Aus der SPD-Fraktion meldetet sich der Bildungsexperte Stefan Fulst-Blei zu Wort, nannte den Umgang der Landesregierung mit den angehenden Lehrkräften »einen Skandal«, schon jetzt würde jede einzelne Lehrkraft in den Klassenzimmern gebraucht. Die SPD habe zahlreiche Vorschläge unterbreitet, wo sie eingesetzt werden könnten, etwa zur Ausweitung der Vertiefungsstunden, um Klassen in Hauptfächern wie Mathe oder Englisch für zusätzliche Übungsphasen aufzuteilen oder zur Aufstockung der Krankheitsvertretungsreserve. »Aber die bittere Wahrheit ist: Wir haben in Baden-Württemberg einen massiven Unterrichtsausfall und Grün-Schwarz verzichtet sehenden Auges offenbar auf Hunderte ausgebildete Lehrkräfte«, so der SPD-Politiker.
Der ehemalige Gymnasiallehrer und bildungspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Timm Kern, schlug in dieselbe Kerbe und forderte, die fertig ausgebildeten Lehrkräfte zur gezielten Verbesserung der Unterrichtssituation einzusetzen. »Doch statt diese einmalige Gelegenheit zu nutzen, unsere Schulen wirksam zu entlasten und die Klassengrößen zu verkleinern, wird sehenden Auges wertvolles Potential verspielt«, schrieb Kern in einer Pressemitteilung.
Wechseloption nach drei Jahren
Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) warb indes dafür, dass die angehenden Lehrkräfte erst einmal an andere Schulen wechselten, etwa an berufliche Schulen, Real- oder Gemeinschaftsschulen, die alle großen Bedarf hätten. Damit einhergehend wolle das Kultusministerium Gymnasiallehrkräften eine Wechseloption nach drei Jahren ins gymnasiale Lehramt anbieten, hieß es. Schopper sagte dem SWR: "Ich möchte die Situation nutzen und jetzt die anderen Schularten stärken und die Lehrkräfte und Schulleitungen dort entlasten." Gerade jetzt Lehrkräfte an Gymnasien einzustellen, die aktuell nicht beschäftigt werden könnten und dafür hunderte von Stellen neu zu schaffen, während andere Schularten dringend Lehrkräfte bräuchten, wäre, so Schopper, "mit Blick auf eine solide Haushaltspolitik nicht vertretbar". Ihr Ministerium verwies darauf, dass die Unterrichtsversorgung an den Gymnasien auch im kommenden Schuljahr bei etwa 105 Prozent liegen werde.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann schaltete sich ebenfalls in die Diskussion ein und sagte, dass er es nicht als Problem sehe, wenn ein Teil der angehenden Gymnasiallehrkräfte im kommenden Schuljahr keine Stelle an einem Gymnasium bekomme. Er wisse nicht, was schlimm daran sein sollte, zeitweise an einer anderen Schulart zu unterrichten, sagte der Grünen-Politiker in Stuttgart. »Ganz im Gegenteil«, so der Ministerpräsident, »es kommt einem nachher sehr zugute, wenn man Erfahrungen gemacht hat auch mit Schülern anderer Schulen.«
Alles eine »irreführende Beruhigungspille«?
Die von der Kultusministerin inzwischen in den Raum gestellte »garantierte Rückkehrgarantie« nannte der Philologenverband (PhV) nun »besonders irritierend«. Denn was auf den ersten Blick Hoffnung wecke, sei bei näherem Hinsehen eine »irreführende Beruhigungspille«: Garantiert werde lediglich eine Rückkehr ins gymnasiale Lehramt, das bedeute aber nicht explizit an ein allgemeinbildendes Gymnasium. Denn gymnasiales Lehramt kann auch an einer Gemeinschaftsschule, die bis zum Abitur führt, unterrichtet werden.
»Die sogenannte Rückkehrgarantie ist in Wahrheit eine Verschiebegarantie – das Kultusministerium verlagert das Problem um drei Jahre in die Zukunft, statt es heute zu lösen«, kritisierte daher PhV-Landesvorsitzende Martina Scherer. Sie forderte eine »echte, vertraglich gesicherte Rückkehrgarantie an das allgemeinbildende Gymnasium«.

