RASTATT/STUTTGART. Claus Haslauer kämpft gegen die Ewigkeit. Der Feind heißt PFAS, ist eine Chemikalie und lauert überall. Er steckt in Alltagsprodukten, breitet sich in der Natur aus und setzt sich in Lebewesen fest. Er macht krank und vergeht nicht. Trotzdem will Haslauer ihn vernichten, mit Feuer und Kohle, den Waffen der Umwelttechnologie.
Das Arsenal testet Hauslauer an der Universität Stuttgart. Dort leitet der Ingenieur Vegas. Die Abkürzung steht für Versuchseinrichtung zur Grundwasser- und Altlastensanierung. Im Laborcontainer auf dem Campus stehen Glaszylinder mit PFAS-belasteter Erde. Von oben gießt Haslauer. Mit dem Wasser sickert die Chemikalie in den Boden. Wie viel und wie schnell will der Wissenschaftler herausfinden. Und was das Gift stoppt.
Haslauers Erde stammt aus Mittelbaden. Der Fundort ist bewusst gewählt. Denn zwischen Rastatt und Baden-Baden entlang des Rheins ist die PFAS-Verschmutzung massiv. Die Stoffe verseuchen Ackerboden, Grundwasser und Menschenblut. Bauern mussten ihre Ernten vernichten, Städte ihre Wasserwerke schließen, Mütter das Stillen ihrer Babys aufgeben. Schuld tragen wahrscheinlich Abfälle aus Papierfabriken, die als Beimischung zum Kompost auf Feldern landeten. Dabei handelt es sich um eines der größten Umweltverbrechen in Deutschland. Strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde niemand. Der Schaden kostete die Steuerzahler bereits 40 Millionen Euro. Dass es noch mehr wird, will Haslauer verhindern.
Wasserdichte Jacken, schmutzfeste Schuhe
Dabei wurden PFAS einst gefeiert als Fortschritt. Der Siegeszug begann in den 1940er-Jahren. Chemiker verknüpften erstmals Atome von Fluor und Kohlenstoff zu Molekülen und nannten sie Per- und Polyfluoralkylsubstanzen, kurz PFAS. Inzwischen umfasst die Gruppe rund 10.000 Stoffe.
PFAS erleichtern den Alltag: Sie machen Regenjacken wasserdicht und Wanderschuhe schmutzfest. Dank ihnen wird Pizza aus Papierschachteln gegessen und Kaffee aus Pappbechern getrunken. Sie sorgen dafür, dass Schnitzel nicht in Teflonpfannen und Muffins nicht auf Backpapier kleben. Sie werden gebraucht für Elektrobatterien und Brennstoffzellen, Halbleiter und Medizingeräte. Ihre weite Verbreitung verdanken PFAS ihren besonderen Eigenschaften: Sie weisen Wasser und Fett ab, widerstehen Licht und Bakterien, trotzen extremen Temperaturen und aggressiven Chemikalien.
Krebs, Übergewicht, Unfruchtbarkeit
Ihre Robustheit ist ihr Segen. Und ihr Fluch: »PFAS überdauern – je nach Stoff – mehrere Jahrzehnte bis Jahrhunderte«, heißt es beim Umweltbundesamt. Ihre Stabilität trug ihnen den Beinamen »Ewigkeitschemikalien« ein. Ihr langes Leben fristen PFAS allerdings nicht brav im Produkt, sondern sie entwischen in die Umwelt. Fabrikschlote und Müllverbrennungen blasen sie in die Luft, Abwässer und Kläranlagen spülen sie in das Wasser, Restschlämme und Löschschäume kippen sie auf den Boden. Mit dem Nahrungskreislauf gelangen sie in Pflanzen, Tiere und Menschen.
Menschen schlucken PFAS beim Essen und Trinken, atmen PFAS mit der Luft ein, absorbieren PFAS in Kosmetika über die Haut. Sind PFAS einmal im Organismus, bleiben sie dort, reichern sich an – und gefährden die Gesundheit. Sie stehen im Verdacht, Krebs zu erregen, Leber und Niere zu schädigen, das Immunsystem zu schwächen, Übergewicht zu fördern und die Fruchtbarkeit zu mindern. Zwar machen nur wenige Stoffe nachweislich krank. Vom Großteil ist keine Bedrohung bekannt. Aber das könnte auch daran liegen, dass er nicht untersucht ist.
1.500 kontaminierte Orte in Deutschland
Gefährlich oder nicht: Keiner entkommt ihnen, PFAS sind überall. Allein in Deutschland zählt ein internationaler Rechercheverbund unter Beteiligung von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR 1.500 kontaminierte Stellen. Zu den Klassikern gehören Industrie, Flughäfen und Großbrände. Darum überraschte der Fund in Mittelbaden: einem ländlichen Gebiet mit Ackerbau und Viehzucht.
Umweltverbrechen in Rastatt
Dass im Boden ein Problem steckt, wurde 2012 klar. Wie groß es ist, stellte sich aber erst allmählich heraus. Ein Rastatter Wasserwerk stieß in jenem Jahr bei einer Routinekontrolle zufällig auf PFAS im Grundwasser. Es folgten weitere Tests: Im Boden und im Blut der Anwohner wurden ebenfalls erhöhte Konzentrationen gemessen. Bis heute werden das Trinkwasser aufwändig gereinigt und die Ernte sorgfältig kontrolliert.
In Verdacht geriet damals ein ortsansässiger Komposthändler. Er nahm mutmaßlich PFAS-belastete Schlämme von einem guten Duzend Papierfabriken an und kassierte dafür 1,7 Millionen Euro. Den Industriemüll panschte er mit dem Dünger und verschenkte das Gemisch an die Bauern in der Region. Manche machte das Gratis-Angebot stutzig – aber viele griffen zu. 100.000 Tonnen Giftmüll landeten im Zeitraum von 1999 bis 2008 auf 3.000 Äckern. »Abfallentsorgung im großen Stil« nennt das Reiner Söhlmann. Der Geologe ist Ansprechpartner bei der PFAS-Geschäftsstelle, die der Landkreis Rastatt im Jahr 2015 zur Krisenkoordination und -kommunikation einrichtete.
Gerichtsverfahren ziehen sich bis heute hin, Beklagte beteuern ihre Unschuld, Verantwortlichkeiten bleiben ungeklärt. Bekannt ist dagegen der Verlust: 1.100 Hektar verseuchter Boden, 170 Millionen Kubikmeter verunreinigtes Grundwasser, 40 Millionen Euro für Aufklärung und Sanierung. Die Zeche zahlen die Bürger – mit ihrer Gesundheit und mit ihrem Geld. Die PFAS-Vergiftung ist einer der größten Umweltskandale in Deutschland. Und das im Oberrheingraben, dem zweitwichtigsten Süßwasserreservoir Europas.
Mit den Waffen der Umwelttechnologie
Rastatt will weiteren Schaden verhüten – und holt sich Hilfe in Stuttgart. Dort entwickelt Vegas Verfahren zum Schutz der Umwelt vor Schadstoffen. »Es darf nicht noch mehr PFAS in Grund- und Trinkwasser gelangen«, benennt Teamleiter Haslauer das Ziel. Und den Weg: »Wir binden PFAS im Boden.« Damit das klappt, braucht es Experimente. Zum Beispiel die Erdsäulen im Laborcontainer: Vier Stück sind es, alle mit PFAS-belastetem Rastatter Boden, drei mit Aktivkohle, eins ohne zum Vergleich. Die Kohlepartikel erinnern an eine Mondlandschaft mit Kratern. Sie sollen wie ein Schwamm PFAS aufsaugen. Dafür sind sie schließlich berühmt: Sie entfernen Abgase aus Autos, Giftstoffe aus Mägen und Schweißgeruch aus Schuhen. Warum also nicht auch PFAS aus Erde?
Soweit der Plan. Dann startet der Versuch: Mitarbeiterin Hue Nguyen lässt es regnen, imitiert Niederschlag, mal heftigen Guss, mal sanften Niesel. Dann wartet sie. Wenn das Wasser durch das Erdreich gesickert ist, dann zapft Nguyen es ab. Dafür steckt sie eine Saugkerze in die Säule. Die Probe untersucht sie auf PFAS: Ob die Aktivkohle-Barriere gehalten hat oder ob das Gift durchgebrochen ist. Das Ergebnis will sie nicht verraten, denn es ist vorläufig. Nur so viel: »Die Messung ist ermutigend.« So ermutigend, dass das Vegas-Team ein Testfeld im Landkreis Rastatt mit Aktivkohle versetzt hat. Auch die Politik glaubt an Rettung: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert den Versuch im Rahmen des Projekts PFClean mit drei Millionen Euro.
Trotzdem warnt Teamleiter Haslauer vor übertriebenen Erwartungen: »Wir können nicht jedes Feld auf diese Weise behandeln.« Dafür ist der Flickenteppich zu groß. »Aber wenn wir den PFAS-Zustrom aus den am stärksten belasteten Flächen minimieren, dann hilft das den Wasserwerken, die Grenzwerte einzuhalten.« Die Chemikalie ist nicht weg, aber es verschafft Zeit. Zumindest etwas: »Die PFAS werden nicht für immer an der Aktivkohle haften«, befürchtet Haslauer.
Dann muss eine richtige Lösung her. Darum sucht Vegas nach einer Möglichkeit, PFAS ganz aus der Welt zu schaffen. Die Apparaturen dafür sind in der Versuchshalle auf dem Campus der Universität Stuttgart aufgebaut. In einen Stahlkessel schüttet Mitarbeiterin Anna Burkhardt Sand, gibt PFAS dazu, steckt eine Heizlanze rein. 300 Grad, 400 Grad, 500 Grad. »Dass PFAS sich bei hoher Temperatur von Sand lösen, ist bekannt«, berichtet Burkhardt. »Nicht bekannt ist, wie heiß es sein muss und was entsteht.« Womöglich noch gefährlichere Stoffe. »Es bringt nichts, das Problem vom Boden in die Luft zu verfrachten«, erklärt Burkhardt. »Bis Hitze zum Einsatz kommt, braucht es noch viel Forschung.«
Sanierung kostet Milliarden
PFAS aus der Umwelt rauzukriegen, ist schwierig. Und kostspielig: Die Sanierung der Region Rastatt würde nach Schätzung des lokalen PFAS-Beauftragten Söhlmann insgesamt vier Milliarden Euro kosten. Für Deutschland würden nach Berechnung eines internationalen Rechercheteams unter Mitwirkung von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR je nach Szenario zwischen 800 Millionen und 17 Milliarden Euro pro Jahr anfallen. Europa müsste mindestens zwei Billionen Euro in den nächsten 20 Jahren aufbringen. Das ist teuer. Womöglich zu teuer.
EU verwässert geplantes Verbot
Darum sollten PFAS nach Ansicht mancher erst gar nicht in Umlauf kommen. Deutschland – vertreten durch das Umweltbundesamt – forderte im Jahr 2023 gemeinsam mit vier anderen Staaten das pauschale Verbot der ganzen Stoffgruppe für die EU. Das war ein weitreichender Vorstoß – und provozierte Widerstand. Die Industrie protestierte: Ohne PFAS könnten Deutschland und Europa ihre Ziele bei Gesundheit, Klimaschutz, Digitalisierung und Verteidigung nicht erreichen, hieß es. Akzeptabel seien allenfalls risikobasierte Verbote einzelner Substanzen und viele Ausnahmen. Die EU-Kommission schlug sich auf die Seite der Wirtschaft. Jetzt warten alle auf den Kommissionsvorschlag, danach stimmen die Mitgliedstaaten ab. Der Kampf gegen die Ewigkeitschemikalien wird wohl ewig währen. (GEA)