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Judenfeindlichkeit und Hasskriminalität auf dem Vormarsch

Immer mehr Hass, immer mehr Hetze, immer mehr Antisemitismus - neue Zahlen aus dem Innenministerium zeichnen ein sehr düsteres Bild. Trotzdem spricht Minister Strobl nur von der »Spitze des Eisbergs«.

Ein Polizeiauto steht vor einer Synagoge
Ein Polizeiauto steht vor einer Synagoge. Foto: Gregor Bauernfeind
Ein Polizeiauto steht vor einer Synagoge.
Foto: Gregor Bauernfeind

Es sind Angriffe und Beleidigungen, es wird gedroht und beschädigt: Inzwischen wird in Baden-Württemberg im Schnitt fast jeden Tag eine antisemitische Straftat begangen - und die Dunkelziffer ist enorm hoch. So wurden im vergangenen Jahr 337 antisemitisch motivierte Straftaten registriert. Das ist ein sprunghafter Anstieg von fast 50 Prozent im Vergleich zu den 228 bekannt gewordenen Fällen im Jahr zuvor, wie die Deutsche Presse-Agentur in Stuttgart erfahren hat.

Auch Hass und Hetze breiten sich immer weiter aus im Land: Die Zahl der überwiegend rechtsmotivierten Delikte der sogenannten Hasskriminalität hat deutlich zugenommen, wie es hieß. Es geht in erster Linie um Volksverhetzung und Gewaltdarstellung. In diesem Bereich verzeichnete das Innenministerium im vergangenen Jahr einen Anstieg von 746 (2020) auf 883 Fälle - also mehr als 18 Prozent Zuwachs. Bei 29 der 883 Fälle handelte es sich um Gewaltdelikte. 421 Fälle wurden demnach im Internet verübt. Bei den Delikten handelte es sich ebenfalls vor allem um Volksverhetzung und Gewaltdarstellung, gefolgt von Beleidigungs- und Propagandadelikten.

Im Ministerium führt man die starken Zunahmen vor allem auf die Landtagswahl, die Bundestagswahl und die sehr aufgeheizte gesellschaftliche Atmosphäre in der Corona-Pandemie zurück. Im Kontext der Pandemie allein wurden 100 antisemitische Straftaten erfasst, davon 42 rechtsmotiviert.

Bei Hasskriminalität handelt es sich nach einer bundeseinheitlichen Definition um politisch motivierte Straftaten, die auf Vorurteilen beruhen. Diese beziehen sich etwa auf die Hautfarbe, das äußere Erscheinen oder die sexuelle Orientierung. Ziel solcher Straftaten sei es, die Opfer zu erniedrigen und von der gesellschaftlichen Teilhabe auszuschließen. 2019 wurden im Südwesten 777 solcher Straftaten gezählt, 2018 waren es 651 und im Jahr davor 565.

Antisemitische Straftaten sind nach Angaben des Innenministeriums eine Teilmenge der Hasskriminalität. 2019 wurden 182 antisemitisch motivierte Straftaten verzeichnet (2018: 136; 2017: 99).

Innenminister Thomas Strobl kündigte ein noch entschlosseneres Vorgehen gegen Hass und Hetze an. »Wir dürfen nicht müde werden und müssen jeden Tag aktiv für das gesellschaftliche Miteinander und das friedliche Zusammenleben in unserem Land eintreten«, sagte der CDU-Politiker vergangene Woche der Deutschen Presse-Agentur. Er sieht in den statistisch erfassten Delikten »nur die Spitze des Eisbergs«. »Wir wollen, dass dieser Berg aus Hass und Hetze schmilzt - und zwar auch unterhalb der Oberfläche. Wir wollen also auch die Auswüchse, die sich im Verborgenen breitmachen, bekämpfen und anpacken«, sagte Strobl, der derzeit wegen einer Corona-Infektion im Krankenhaus liegt.

Schutz jüdischer Einrichtungen

Das Land verstärkt etwa den Schutz jüdischer Einrichtungen. Nach dem antisemitisch motivierten Terroranschlag von Halle 2019 stellte die Landesregierung für die Israelitischen Religionsgemeinschaften in Baden und in Württemberg bis 2021 rund drei Millionen Euro für Sicherheitsmaßnahmen zur Verfügung. Für die kommenden drei Jahre sollen ihnen für Schutzpersonal sowie Alarm- und Meldesysteme zudem rund eine Million Euro jährlich bereitgestellt werden.

Für große Betroffenheit hatte ein Brandanschlag auf die Synagoge in Ulm im Juni 2021 gesorgt. Die Fassade blieb rußgeschwärzt zurück, verletzt wurde niemand. Der mutmaßliche Täter floh in die Türkei, wo ihm aufgrund seiner türkischen Staatsangehörigkeit keine Auslieferung droht.

Mitglieder von Glaubensgemeinschaften erhalten zudem bei verdächtigen Wahrnehmungen konkrete Verhaltenstipps von Experten. Die bundesweit ersten Polizeirabbiner sollen die interkulturelle Kompetenz innerhalb der Polizei im Südwesten stärken.

Maßnahmen gegen Hasskriminalität

Im November rief das Land einen Kabinettsausschuss gegen Hass und Hetze ins Leben. Neben Vertretern aus Staats-, Innen-, Kultus-, Sozial- und Justizministerium sollen Experten aus Religionsgemeinschaften und der Zivilgesellschaft den Ausschuss je nach Thema unterstützen. Eine Task Force, angebunden ans Landeskriminalamt, soll einschlägige Bedrohungen im Bereich Hass und Hetze feststellen. Ein Hauptaugenmerk liegt auf der Stärkung der Medienkompetenz der Bürger - deshalb mischt nicht nur die Polizei mit, sondern auch die Landeszentrale für politische Bildung.

Mit einer neuen Social-Media-Kampagne, die im ersten Halbjahr 2022 starten soll, will das Land die Menschen sensibilisieren. Bei Staatsanwaltschaften, der Polizei und dem Landesverfassungsschutz wurden zudem Stellen aufgestockt. Das Land hat auch ein Netz an Meldestellen aufgebaut, um Hasskommentare und antisemitische Bedrohungen und Beleidigungen anzuzeigen.

Die Meldestelle »respect!« meldet dem Landeskriminalamt (LKA) jedes Jahr mehr Hinweise - 2019 waren es 234, 2020 bereits 258 und 2021 schon 281. Die Mehrheit der Sachverhalte werde als strafrechtlich relevant beurteilt und nach Abschluss der Ermittlungen den zuständigen Staatsanwaltschaften vorgelegt. Seit 2019 gibt es auch eine Ansprechstelle für Amts- und Mandatsträger beim LKA.

Reaktionen

Der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung, Michael Blume, forderte den Landtag auf, im medialen Kampf gegen Antisemitismus mehr zu unterstützen. »Verschwörungsmythen sind durch digitale Medien wieder zu einem Mittel des Meinungskampfes geworden und werden von deutschen, russischen, türkischen, arabischen und englischsprachigen Extremisten auch in Europa gezielt verbreitet«, sagte Blume der dpa. »Diese wenden sich gegen jüdisches Leben in Europa, aktuell massiv gegen den Präsidenten der Ukraine, gegen das friedliche Zusammenleben und gegen die Seele unserer Demokratien.«

Die Grünen-Fraktion erinnerte daran, dass Antisemitismus nicht nur im digitalen Raum stattfinde, sondern auch auf dem Straßen. »Regelmäßig kommt es bei Protesten gegen die Corona-Maßnahmen zu abscheulichen antisemitischen Holocaust-Relativierungen«, kritisierte der innenpolitische Sprecher Oliver Hildenbrand. Die FDP sieht das ähnlich: Sicherheitsbehörden müssten entschieden vorgehen und das Nutzen antisemitischer Symbole auf Demonstrationen konsequent unterbinden, forderte der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Nico Weinmann.

Für die SPD forderte deren Verfassungschutzexperte Boris Weirauch, die nach seinen Angaben mehr als 40 offenen Haftbefehle gegen Rechtsextremisten zu vollstrecken. Außerdem besäßen noch 35 aktenkundige Rechtsextremisten mit staatlicher Erlaubnis Schusswaffen.

Respect - Meldestellte für Hetze im Netz

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