STUTTGART. Zu Hause. Endlich zu Hause. Nach unvorstellbaren 13 Jahren. Assads Schergen hatten auf Nael Almagerbi geschossen, ihn schwer verletzt, ihn gefoltert, ins Gefängnis gesperrt. Almagerbi gelang die Flucht nach Deutschland, in der Region Stuttgart lebt er mit Frau und Töchtern, arbeitet als Klimatechniker. Seine zweite Heimat. Doch die erste trägt er im Herzen: Als der erste Flug nach Damaskus ging, saß er im Flieger.
Er kann es immer noch nicht fassen. In den Räumen der Hilfsorganisation Stelp an der Uhlandstraße ringt Nael Almagerbi (35) nach Worten, wenn man ihn fragt: »Wie fühlen Sie sich?« Er überlegt lange, ehe er sagt: »Es ist wie ein Traum, niemals hätte ich gedacht, dass ich in meinem Leben jemals noch nach Syrien fliegen darf.«
Er durfte. Weil die Rebellen um den neuen Regierungschef Mohamed al-Dschalali binnen Wochen das Land und Diktator Assad samt seinen Truppen vertrieben, womit niemand gerechnet hatte, auch Almagerbi nicht. Und weil der Stelp-Gründer und Geschäftsführer Serkan Eren ein Netzwerk hat, auf das selbst Außenministerin Annalena Baerbock stolz wäre. Natürlich hat Eren mitbekommen, dass ein Flugzeug von Istanbul nach Damaskus fliegt, an Bord Vertreter von großen Hilfsorganisationen, Journalisten und Syrer. Er buchte zwei Plätze. Für sich, um Kontakte aufzubauen, Kleidung und Lebensmittel zu kaufen und zu verteilen, und für Almagerbi. Damit er seine Heimat wieder sieht.
Die beiden kennen sich seit Jahren. Um davon zu erzählen, müssen wir noch einmal zurückblicken in die düstersten Jahre der Assad-Regierung. 2012 demonstrierte Almagerbi gegen Assad. Ein lebensgefährliches Unterfangen. Die Häscher schossen in die Menge, jagten die vornehmlich jungen Demonstranten, töteten fünf von Almagerbis Freunden. Er selbst flüchtet auf das Dach eines Hauses, wird dort gestellt.
Schüsse in beide Beine
Was folgt, davon gibt es ein Video. Man sieht darauf, wie Soldaten ihn treten, auf ihn schießen und vom Dach werfen. Er überlebt, zerschunden und mit Schusswunden in beiden Beinen. Er landet im Gefängnis, fünf Monate lang, wird gefoltert, stets kurz davor hingerichtet zu werden. Da kommt sein Bruder auf eine wahnwitzige Idee. Er entführt den Sohn eines Offiziers der Armee. Es kommt zu einem Austausch. Nael Almargerbi ist frei. Aber seine Familie und er sind Staatsfeinde. Seine Eltern und die sieben Brüder fliehen über den Libanon in die Türkei.
Wie viele Deutsche aus eigener Familiengeschichte wissen, sind Fluchtgeschichten kompliziert, die Wege verschlungen. Seine Familie bleibt in der Türkei, er landet in Deutschland, in Magdeburg. Lernt dort eine Frau kennen, die wiederum Serkan Eren kennt. Der fragt rum, bekommt von einem Unternehmen die Ansage, wir stellen gerne einen Klimatechniker ein. Nael Almagerbi kommt nach Stuttgart, hat einen Job und wieder ein Zuhause.
Und dass er die Heimat wieder sieht, daran mag er nicht glauben. Doch vor Kurzem war es soweit. Er küsst den Boden, weint, schließt Freunde in die Arme, die er 13 Jahre nicht gesehen hat. Besucht die Schwiegereltern in Aleppo. Und die Gräber der Freunde und Verwandten, die nicht überlebt haben. Und das sind viele, viel zu viele. »Ich hatte Glück«, sagt er mit leiser Stimme.
Vergewaltigungen im Gefängnis
Serkan Eren ergänzt, noch nie habe er in einem Flugzeug gesessen mit so vielen fröhlichen Menschen. »Auf dem Rollfeld haben die Menschen getanzt und gesungen.« Es herrsche Aufbruchstimmung. Die ist aber auch bitter nötig. Eren hat schon vieles gesehen, »aber ich habe nicht erwartet, dass die Stadt so zerstört ist«.
Er zeigt Fotos, Damaskus ist ein Trümmerhaufen. Schutt, so weit das Auge reicht. 13 Jahre Krieg haben nur Ruinen und Leid hinterlassen. Um das zu lindern, war er da, knüpfte mit Almagerbis Hilfe Kontakte zu syrischen Hilfsorganisationen. Sie verteilen Kleidung und Lebensmittel. In einem Behindertenheim für Kinder wollen sie sich engagieren, wie immer leiden die Schwächsten und Jüngsten am meisten. Eine weitere Idee von Eren allerdings gestaltet sich kompliziert. Er hört dort von den Kindern, die im Gefängnis geboren wurden und noch nie einen Baum oder einen Vogel gesehen haben. Viele eingekerkerte Frauen sind von ihren Wärtern vergewaltigt worden, haben Kinder geboren, mit diesen jahrelang zusammen in den Zellen dahinvegetiert.
Nun sind sie frei. Doch die Kinder fürchten sich vor der Freiheit. Ein Junge hat gesagt, er wolle wieder nach Hause. Nach Hause – ins Gefängnis. Für solche Kinder will Stelp psychologische Hilfe organisieren. Doch Psychologen gibt es nicht. Zumal in einer Gesellschaft, in der jeder seine Schrecken und Alpträume mit sich herumschleppt. Almagerbi ist trotzdem zuversichtlich. »Jetzt geht es endlich aufwärts«, sagt er und will mithelfen. Dass er zurückgeht, ist für ihn klar. Wann, das werde sich weisen. Zunächst einmal wird er Ende März seinen Töchtern Syrien zeigen. Das erste Mal. (GEA)