Der baden-württembergische FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke will die Laufzeiten der drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke wegen der Energiekrise bis 2026 verlängern. »Es ist notwendig, die Kernkraftwerke, zumindest die drei, die im Moment noch am Netz sind, längerfristig laufen zu lassen«, sagte Rülke am Donnerstag im Landtag in Stuttgart. »Dazu brauchen wir auch neue Brennelemente. Das muss mindestens bis 2024 gehen, möglichst aber bis 2026, damit wir zu einem bezahlbaren Preis sicher durch diese Energiekrise kommen.« Rülke, der auch Präsidiumsmitglied der FDP im Bund ist, geht damit über die Forderung seiner Partei in der Ampel-Bundesregierung hinaus. Den Grünen warf Rülke »Alibipolitik zur Besänftigung der grünen Basis« vor.
Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) widersprach Rülke energisch und erklärte, der mögliche Streckbetrieb von zwei süddeutschen AKW bis zum Frühjahr sei ausreichend. Dabei gehe es auch darum, dem französischen Partner im Zweifel Strom liefern zu können. Darüber hinaus werde die »Hochrisikotechnologie« nicht mehr gebraucht, das habe der Stresstest der Netzbetreiber gezeigt. »Natürlich kann die Atomenergie ein Baustein sein, in diesem Winter die Situation zu stabilisieren.«
Walker hält es aber für keine gute Idee, statt russischen Gases Brennstäbe aus Russland zu bestellen. Damit begebe man sich in eine neue Abhängigkeit von Moskau. »Es ist nicht richtig, so zu tun, als ob das die Lösung ist.« Der Grünen-Abgeordnete Niklas Nüssle monierte den Titel der von der FDP beantragten Debatte: »Mit Kernkraft durch Krieg und Krise.« Nüssle sagte: »Diesen Titel hätten wir eher bei der AfD verortet.« In der Tat geißelte die AfD anschließend die politische Entscheidung, überhaupt aus der Atomkraft auszusteigen. Dabei habe einst auch die FDP mitgemacht.
Zuvor hatte Rülke einen Frontalangriff auf die Grünen gestartet, mit denen die FDP im Bund in der Ampel regiert. Die Strategie von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der die zwei süddeutschen AKW für den Fall von Engpässen in der Stromversorgung bis ins Frühjahr einsatzbereit halten will, führe ins »Nirwana«.
Der Hauptgrund für die Energiekrise sei der russische Angriffskrieg in der Ukraine, doch sie sei »teilweise auch hausgemacht«. Die deutsche Energiewende sei »fehlgeleitet«, weil der langfristige Umstieg auf erneuerbare Energien mit Gas überbrückt werden sollte. »Es ist eine Illusion zu glauben, allein mit erneuerbaren Energien kurz- oder mittelfristig autark zu werden.« Es sei eben falsch gewesen, darauf zu vertrauen, dass billiges russisches Gas immer zur Verfügung stehe. Auf die veränderte Lage müsse man nun reagieren. »Solange wir Gasmangel haben, können wir es uns nicht leisten, auf die Atomkraft zu verzichten.«
Neben längeren Laufzeiten für die Atommeiler müsse Deutschland künftig auch Fracking nutzen, um selbst Gas aus Schiefergestein zu gewinnen. Es sei falsch, dass die Grünen das zum Tabu erklärten. Zugleich werde aber Frackinggas aus dem Ausland importiert. »Auch das ist eine scheinheilige Politik«, sagte Rülke.
Der FDP-Fraktionschef warnte davor, nur mit hunderten Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt gegenzusteuern, um die Preise zu senken. »Sie können nicht immer neues Geld auf das Problem draufschmeißen und das Symptom kurieren.« Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hatte erklärt, dass Deutschland trotz des Abwehrschirms von 200 Milliarden Euro die Schuldenbremse im nächsten Jahr einhalten werde. Der Abwehrschirm, den Kanzler Olaf Scholz (SPD) »Doppel-Wumms« genannt hatte, soll über ein sogenanntes Sondervermögen noch in diesem Jahr finanziert und dann nach und nach ausgezahlt werden.
Rülke sagte dazu, es sei nötig im Preisbereich etwas zu tun. »Deshalb ist es auch vertretbar, jetzt 200 Milliarden Euro neue Schulden zu machen und diese zur Verfügung zu stellen, um in der Bevölkerung und in der Wirtschaft zu entlasten.« Aber Deutschland dürfe nicht in die Lage kommen, dass man einen »Vierfach-Wumms, einen Sechsfach-Wumms oder einen Achtfach-Wumms« brauche.
Es geht in der Debatte um die Atomkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim II und Emsland, die ursprünglich Ende des Jahres als letzte vom Netz gehen sollten. In der Ampel-Koalition streiten Grüne und FDP über die Verlängerung der Laufzeiten. Walker appellierte an die FDP im Bund, den Weg für den Streckbetrieb freizumachen. An die Adresse von FDP und AfD sagte sie, man habe als Politik auch Verantwortung, »nicht noch mehr Ängste zu schüren in der Bevölkerung«. Die Stromversorgung in Deutschland sei stabil, es könne höchstens im Winter unter Umständen stundenweise zu Engpässen kommen. »Blackouts sind überhaupt nicht das Thema.«
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