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Expertengruppe im Land fordert Umbau zu zweigliedrigem Schulsystem

Experten wollen Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen zusammenführen und somit das Chaos an den weiterführenden Schulen beenden. Doch die Zeit drängt.

Vor dem Hintergund einer Rückkehr zu G9 und den wachsenden Problemen an den weiterführenden Schulen fordert ein Gremium den radi
Vor dem Hintergund einer Rückkehr zu G9 und den wachsenden Problemen an den weiterführenden Schulen fordert ein Gremium den radikalen Umbau der zerstückelten baden-württembergischen Schulstruktur. Foto: Philipp von Ditfurth/dpa
Vor dem Hintergund einer Rückkehr zu G9 und den wachsenden Problemen an den weiterführenden Schulen fordert ein Gremium den radikalen Umbau der zerstückelten baden-württembergischen Schulstruktur.
Foto: Philipp von Ditfurth/dpa

TÜBINGEN. Wollte man es flapsig formulieren, könnte man sagen: Houston, wir haben ein Problem! Thorsten Bohl, Bildungswissenschaftler an der Uni Tübingen, formuliert es lieber so: »Es kracht an allen Ecken und Enden.« Und meint damit den Zustand des zerstückelten Schulsystems in Baden-Württemberg mit seinen Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen neben dem Gymnasium. Bohl und andere Bildungsexperten warnen: »Mit der Rückkehr zu G9 wird sich das Problem noch erheblich verschärfen.«

Bohl ist Teil einer 14-köpfigen Expertengruppe aus Bildungswissenschaftlern und Schulpraktikern, die sich in den letzten Monaten mit der Frage beschäftigt haben, wie sich »das Chaos in der Sekundarstufe«, wie Bohl es nennt, lösen lässt. Denn, so das Fazit der Experten: Die Zeit drängt, das Land könne es sich nicht leisten, noch weitere Jahre zu verlieren, bis das Bildungssystem vernünftig aufgestellt wird. »Baden-Württemberg kommt im Gegensatz zu anderen Bundesländern nicht in die Gänge. Wir haben einfach nicht die Zeit, noch weitere zehn Jahre zu warten«, kritisiert Bohl.

»Baden-Württemberg kommt nicht in die Gänge«

Die momentane Situation fasst das Gremium folgendermaßen zusammen: die Schularten neben dem Gymnasium trügen eine riesige gesellschaftliche Last, würden eine wichtige gesellschaftliche Integrationsaufgabe erfüllen. Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen nähmen fast die komplette Schülerschaft mit Migrationshintergrund auf, Kinder mit psychischen Problemen, teils infolge der Corona-Krise, landeten hier, zudem würden diese Schulen komplett die Inklusion stemmen. Eine weitere Abwanderung der leistungsstarken Schüler von diesen Schularten zu einem neunjährigen Gymnasium würde die bereits bestehenden Probleme an diesen Schulen weiter verschärfen. Bohl warnt: »Angesichts der Dominanz des Gymnasiums drohen diese Schularten unterzugehen.«

Das Ergebnis ihrer Beratungen, das die Gruppe kürzlich mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung präsentiert hat, mündet in einem radikalen Vorschlag: Alle Schularten neben dem Gymnasium sollen zu einer einzigen Schulart zusammengeführt werden. Damit würde es in Zukunft nur noch ein zweigliedriges Schulsystem im Land geben. Werkreal-, Realschule und Gemeinschaftsschule wären damit Geschichte. Experten nennen dieses System auch das Zwei-Säulen-Modell, Baden-Württemberg würde sich damit Beispielen wie Hamburg, Schleswig-Holstein und dem Saarland anschließen, die diesen Schritt bereits erfolgreich umgesetzt haben.

»Es geht um die Zukunft unserer Kinder«

Doch wie soll diese neue Sekundarschule konkret aussehen? Im Kern müsse sie professionell mit Heterogenität umgehen können, im Ganzen hochprofessionell arbeiten, so das Gremium. »Das heißt, wir brauchen gute Lehrerbildung, eine gute Ausstattung, und multiprofessionelle Teams«, sagt Bohl. Die neue Sekundarschule würde alle Abschlüsse bis zum Abitur anbieten, in Klassenstufe 5 und 6 sollen vor allem die Basiskompetenzen vermittelt und gefestigt werden. Eine starke Berufsorientierung sei ebenso angedacht, wie ein Fach »Informatik und KI«, das die Experten für alle künftigen Lebenswege der Schüler für unabdingbar halten.

Jochen Wandel, Schulleiter der Wilhelm-Hauff-Realschule in Pfullingen, war Teil der Arbeitsgruppe. Auch er unterstützt den Zusammenschluss der Schularten, sagt: »Wenn man ehrlich ist, ist die Realschule in den letzten Jahren schon keine Erfolgsgeschichte mehr. In Pfullingen sind die Hauptschulen und Werkrealschulen schlicht nicht mehr da, das bedeutet, diese Kinder sind ohnehin alle längst bei uns an der Schule.« Würden künftig noch mehr der stärkeren Schüler ans Gymnasium wechseln, würde dies auch das Gefüge an seiner Schule weiter ins Wanken bringen.

»Wir kleben weiter nur Pflästerchen auf die Probleme«

Den Autoren wurde nach der Veröffentlichung ihres Vorschlags vorgeworfen, dass ihr Konzept sehr nahe an der Gemeinschaftschule sei. Angela Keppel-Allgaier, Schulleiterin der Hans-Küng-Gemeinschaftsschule in Tübingen erklärt, dass dies damit zu tun habe, »dass mit der Einführung der Gemeinschaftschule vor zwölf Jahren schon Integration und Inklusion mitgedacht, schon damals mit dem Konzept auf gesellschaftliche Herausforderungen reagiert wurde«. Und dieses eben auch heute immer noch aktuell sei und daher neben anderen Konzepten Eingang in das Papier gefunden hätte.

Die Dringlichkeit eines Umbaus liegt für die Bildungspraktiker auf der Hand. Die bestehende Konkurrenz zwischen den Sekundarschulen um die leistungsstarken Schüler müsse beendet, der Herausforderung, künftig nicht ein Drittel der nachwachsenden Generation zu verlieren, begegnet werden. »Es geht um die Zukunft unserer Kinder, doch wir kleben weiter nur Pflästerchen auf die Probleme«, sagt Realschulleiter Wandel und fordert: »Wir brauchen jetzt eine zweite Säule, die attraktiv ist, auf die wir stolz sein können und in der wir all das tun, was wir auch im internationalen Vergleich in den vergangenen Jahren als wirksam erlebt haben.« Die Umsetzung ihres Vorschlags sei eigentlich nicht kompliziert, man müsse nur den Mut dazu aufbringen.

Und was sagt das Kultusministerium zu den vorgestellten Umbauplänen? Dieses, so Keppel-Allgaier, habe bisher noch nicht reagiert. (GEA)