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Experte: Palmers Provokationen schadeten der Sache

Der Judenstern-Vergleich brachte das Fass zum Überlaufen und Boris Palmer einen heftigen Knick in der Karriere. Die Schuld dafür sehen Fachleute für politische Kommunikation bei dem Oberbürgermeister. Doch der Fall wirft auch ein Licht auf die Debattenkultur.

Oberbürgermeister von Tübingen Palmer
Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, nimmt an einer Pressekonferenz teil. Foto: Marijan Murat
Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, nimmt an einer Pressekonferenz teil.
Foto: Marijan Murat

Auch wenn Debatten in sozialen Medien oft nicht sachlich sind, liegt die Verantwortung in der Causa Boris Palmer aus Sicht von Experten bei dem Politiker selbst. Der Tübinger Oberbürgermeister hätte sich auch in der Vergangenheit schon bei gesellschaftspolitischen Themen besser unter Kontrolle haben müssen, teilte der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim in Stuttgart mit. »Mit seinen unkontrollierten Provokationen hat er sich selbst und seiner politischen Sache eher geschadet.«

Aus Sicht des Medienwissenschaftlers Martin Löffelholz, der an der Technischen Uni Ilmenau unter anderem zu politischer Kommunikation forscht, hat Palmer immer wieder sprachlich Grenzen überschritten, was zurecht im öffentlichen Diskurs kritisiert wurde.

Wenn jemand wie Palmer öffentlich Begriffe verwendet, die seit langem als rassistisch eingestuft werden, liefere der Kurznachrichtendienst Twitter das Forum, in dem sich in rasantem Tempo Kritiker sammeln. Das würden Medien aufgreifen, berichten und die Kritik damit weiter verstärken, erläuterte er. Andere Meinungen und eine differenzierte Debatte blieben dabei oft außen vor. »Damit muss ein erfahrener Politiker wie Boris Palmer aber rechnen. Würde er keine grenzwertigen oder gar eindeutig rassistischen Begriffe verwenden, würde er weniger Aufmerksamkeit generieren, hätte aber auch weniger Probleme.«

Die Entscheidung, zu polarisieren, habe Palmer selbst getroffen, erklärte Brettschneider. »Und dabei hat er - warum auch immer - überzogen.« Die öffentliche Aufmerksamkeit, die er als Partei-»Rebell« bei den Grünen erhalten hat, sei größer gewesen als die öffentliche Aufmerksamkeit für seine Arbeit als Rathauschef.

Als Oberbürgermeister habe Palmer sich große Verdienste erworben, erläuterte Löffelholz. Auch dort sei er mit provokanten Äußerungen aufgefallen, was ihm die Bürgerinnen und Bürger aber mehrheitlich nicht übelgenommen hätten - immerhin wurde er erneut gewählt. »Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen einem provokant-forschen Auftreten und Äußerungen, die als diskriminierend oder gar rassistisch einzustufen sind«, erklärte der Fachmann.

Insbesondere in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter sorgten Palmers Äußerungen immer wieder für Empörung. Das seien nicht gerade die Orte gepflegter sachlicher Debatten, so Experte Brettschneider. »Hier wird oft vereinfacht, missverstanden, mitunter sogar gehetzt und beleidigt.« Das sei nicht typisch für die gesamte Gesellschaft. »Wenn man als Politiker solche Plattformen für Meinungsäußerungen nutzt, muss einem das bewusst sein«, betonte der Wissenschaftler. »Und man sollte sich im Griff haben - online wie offline.«

Aus seiner Sicht sagt es auch einiges über die Debattenkultur aus, wenn vor allem Provokationen zu politischen Diskussionen führen. »Da geht es oft nicht mehr um Meinungsaustausch oder gar um das Finden gesellschaftlich tragfähiger Lösungen bei strittigen Themen.« Stattdessen gehe es darum, aufzufallen und Recht zu haben. Oder sogar darum - wie bei »Nazi raus«-Rufen - jemanden anzuprangern und fertig zu machen. »Insgesamt würde ich mir bei öffentlichen Streitfragen mehr «Maß und Mitte» wünschen statt «Lautstärke und Extreme»«, erklärte Brettschneider. »Das würde auch uns als Gesellschaft gut tun.«

Löffelholz erklärte, zur demokratischen Gesellschaft gehöre aber eben auch die lautstarke Kritik auf der Straße. »Wenn sich jemand rassistisch äußert - und sei es unabsichtlich -, muss er akzeptieren, dass entsprechend deutlich darauf reagiert wird.« Im Twitter-Kosmos träfen sich vor allem jene, die öffentlich gehört werden wollten. »Mit dem Alltag vieler Menschen haben die dortigen Debatten oft wenig zu tun«, so der Experte. Allerdings fänden sich dort viele unterschiedliche Stimmen, keineswegs nur die »eine« Sicht.

Palmer hatte am Rande einer Migrationskonferenz in Frankfurt am Main Stellung zu Art und Weise seiner Verwendung des »N-Wortes« genommen. Als er mit »Nazis raus«-Rufen konfrontiert wurde, sagte Palmer: »Das ist nichts anderes als der Judenstern. Und zwar, weil ich ein Wort benutzt habe, an dem ihr alles andere festmacht. Wenn man ein falsches Wort sagt, ist man für euch ein Nazi. Denkt mal drüber nach.« Mit dem sogenannten N-Wort wird heute eine früher in Deutschland gebräuchliche rassistische Bezeichnung für Schwarze umschrieben. Nach heftiger Kritik erklärte Palmer am Montag seinen Parteiaustritt bei den Grünen und kündigte eine »Auszeit« an.

»Was skandalös ist und was nicht, liegt ja oft im Auge des Betrachters«, teilte Brettschneider mit. »Es gibt aber einen gesellschaftlichen Grundkonsens: Wir relativieren nicht den Holocaust.« Durch die - wie er selbst sagt - »völlig unangemessene« Erwähnung des Judensterns habe Palmer hier eine Grenze überschritten. »Das wird als moralisches Fehlverhalten interpretiert.« Und wenn sich dann engste Freunde und politische Weggefährten von einem abwenden, könne man von einem politischen Skandal sprechen, so der Fachmann. »Ein Skandal, der bei Boris Palmer ja eine lange Vorgeschichte hat.«

Homepage Brettschneider

Homepage Löffelholz

© dpa-infocom, dpa:230503-99-536618/3