RAVENSBURG. »Die digitale Kommunikation hat eine Rückwirkung auf die politische Kultur des Landes. Darin sehe ich den Schlüssel für viele Probleme, die wir heute haben«, sagt Ulrich Müller. Der heute 80-Jährige war zunächst Staatssekretär unter Verkehrsminister Hermann Schaufler und dann nach Schauflers Rücktritt 1998 dessen Nachfolger. Inzwischen lebt der CDU-Politiker in Ravensburg und hat ein 685-seitiges Buch mit dem Titel »Kompass politischer Kultur – Verantwortlich handeln in verwirrenden Zeiten« geschrieben.
Zu politischen Weggefährten habe er noch sporadisch Kontakt über die überfraktionelle Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Landtags, erzählt Müller. »Mit der Gelassenheit des Ruhestands ist da manchmal auch mehr Konsens möglich als früher«, sagt der ehemalige Minister und betont, dass er zu seinem grünen Kollegen Franz Untersteller, der später ebenfalls Umweltminister wurde, im Ausschuss ein gutes Verhältnis gehabt habe.
In seinem Buch habe er sich Gedanken darüber gemacht, »wie der Hase läuft und wie er laufen sollte«, sagt Müller dem GEA. Dabei spiele vor allem die direkte Kommunikation über die sozialen Medien ohne den Umweg über die Tageszeitungen und deren Relevanzkriterien eine große Rolle. »Du musst da zuspitzen, damit du stattfindest«, sagt Müller. Diese neuen Gesetzmäßigkeiten begünstigten die AfD und deren vermeintlich einfache Wahrheiten. »Die Fähigkeit zur Differenzierung geht dabei verloren«, sagt Müller. Die Lösung seien allerdings nicht die oft beschworenen Appelle zum Zusammenhalt. »Zusammenhalt halte ich für problematisch«, sagt Müller. Wichtig sei, dass man sich grundsätzlich über die Prinzipien der politischen Kultur einig sei.
Müller ist überzeugt davon, dass er immer noch ein bürgerliches und ein linkes Lager in der Politik gebe. Dem bürgerlichen Lager, vor allem seiner Partei, der CDU wirft Müller ein »inhaltliches Ausbluten« vor lauter Pragmatismus vor. Dabei hätten die Christdemokraten »ihre Seele verloren«. Es helfe allerdings auch nicht weiter, die alten Wahlkampfschlager zu wiederholen. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin Pragmatiker, aber man darf es auch nicht übertreiben«, sagt Müller. Die CDU habe hinzugelernt und sei deshalb auch in den Umfragen gestiegen. »Doch sie steht nicht da, wo sie angesichts des Ampel-Versagens stehen könnte«, urteil Müller.
Dem linken Lager und vor allem der Woke-Bewegung wirft Müller »Repression in Zeichen der Toleranz« vor. Von einem bevormundenden Dogmatismus und einem »ständigen Belehren von oben herab« spricht Müller. Ein Beispiel dafür sei das Heizungsgesetz, das von oben herab beschlossen worden sei, ohne mit Installateuren an der Basis zuvor über die Machbarkeit zu sprechen. Eine ähnliche handwerkliche Fehlleistung auf konservativer Seite sei das Mautgesetz des CSU-Verkehrsministers Andreas Scheuer, der die Fachleute ignoriert habe, die ihn davor warnten, dass die EU das Gesetz kassieren würde.
»Ich bin Pragmatiker, aber man darf es auch nicht übertreiben«
Die Grünen sieht Müller als »dritte Volkspartei« neben SPD und CDU. »Die Grünen haben mittlerweile ein Stammpublikum, das sie durch dick und dünn trägt«, sagt Müller. Als einzige der Ampelparteien hätten die Grünen in den Umfragen kaum verloren. Ihre Wählerschaft verzeihe ihnen fast alles, so auch, dass die Politiker der Partei, die auch aus der Friedensbewegung entstand, mittlerweile die schärfsten Aufrüstungsforderungen machten. Die FDP sieht Müller im »klassischen Dilemma des kleinsten Koalitionspartners«: »Du musst auffallen, aber wenn du zu viel auffällst, wirst du als Störenfried wahrgenommen«.
Hoffnung macht Müller vor allem die kommunale Politik. »Hier ist die politische Kultur noch am ehesten positiv zu betrachten«. Deshalb fordert Müller in seinem Buch den kommunalen Spitzenverbänden, also Städtetag, Gemeindetag und Landkreistag, Sitz und Stimme im Bundesrat zu geben. Aus der kommunalen Praxisarbeit seien inhaltliche Impulse für die politische Kultur zu erwarten. Hier gebe es auch noch am ehesten Austausch mit anderen europäischen Kommunen. »Bevor man das Rad neu erfindet, sollte man sich zunächst einmal in der Nachbarschaft und in der Vergangenheit umschauen, wie es da funktioniert hat«, sagt Müller. In vielen Landesministerien und in den Redaktionen der Zeitungen werde die Politik der benachbarten Bundesländer kaum verfolgt. In Baden-Württemberg verfolge man Bayern noch am ehesten, da es mit der Autoindustrie, der kleinteiligen Landwirtschaft und dem Länderfinanzausgleich gemeinsame Interessen gebe.
Er sei überzeugter Europäer und ebenso überzeugter Anhänger einer Globalisierung, sagt Müller. (GEA)
Ulrich Müller: Kompass politischer Kultur, 685 Seiten, 30 Euro, Herder Verlag, Freiburg.