REUTLINGEN. Fast wie in einer kleinen Studentenwohnung sieht es aus. 70 Quadratmeter, vier Betten, zwei Schlafzimmer, ein Badezimmer. Vollausgestattete Küche. Und Zugang über die Terrasse in einen großen Garten. An den Wänden hängen Bilder der Kinder und Bücher stehen in den Regalen. Im Nebenraum eine Unzahl an alten Spielsachen, nicht gebrauchten Gegenständen, viel Gerümpel. Offensichtlich wurde hier schon viel gelebt. Die Einliegerwohnung befindet sich im Erdgeschoss im Haus der Reutlinger Günther und Gabriele Mistele. Sie bieten die Wohnung fremden Menschen für ihren Urlaub an.
Dafür nutzen sie Plattformen im Internet, über die man den Haus- oder Wohnungstausch ohne Miet- oder Buchungskosten anbieten kann. Neben Anbietern wie HomeLink, Intervac oder People Like Us hat sich HomeExchange in den vergangenen Jahren zum Marktführer entwickelt. Gegründet 1992, war die ursprüngliche Idee des Unternehmens, dass die Nutzer zur gleichen Zeit die Unterkunft tauschen. Einziger Kostenpunkt ist die jährliche Mitgliedsgebühr in Höhe von 160 Euro. Später führte die Firma »Guest-Points« ein, mit denen man auch ohne Tausch unter dem Dach des anderen Nutzers unterkommen kann. Diese Punkte verdient man sich, indem man Gäste beherbergt oder man kauft sie sich hinzu.
Entdeckt über Stiftung Warentest
Mistele und seine Frau sind vor knapp sieben Jahren auf HomeExchange aufmerksam geworden. »Durch einen Artikel von Stiftung Warentest«, wie der 68-Jährige erzählt. Akut wurde es dann, als am Ende der Radtour, die das Ehepaar jedes Jahr mit Freunden macht, eine Unterkunft gesucht wurde. Das Finden eines erschwinglichen Hotels sei schwierig gewesen, sagt der pensionierte Lehrer. Da erinnerte er sich an den Artikel über den Online-Dienst. Die Misteles registrierten sich, legten ein Profil an und begaben sich auf die Suche. Erfolgreich sollte die Suche nach einer Unterkunft damals zwar noch nicht sein - es wurde schließlich doch noch ein günstiges Hotel - aber mit der Registrierung war die erste Schwelle überwunden.
Mit dem Anlegen des Profils stellten die Misteles auch ihre Unterkunft in der Community vor. Die vollausgestattete Einliegerwohnung, in der schon ihre drei bereits ausgezogenen Kinder gewohnt hatten. Die Kurzbeschreibung und Bebilderung der Bleibe machten Eindruck. Kurze Zeit später kam es zur ersten Anfrage. »Eine Frau aus den USA kontaktierte uns und fragte, ob sie für zehn Tage unsere Wohnung beziehen könnte«, erzählt der ehemalige Diplomingenieur und Berufsschullehrer. »Weil sie in Hirschau zum Zahnarzt gehen wollte.« Die Misteles prüften das Profil der Frau mit der ungewöhnlichen Anfrage und willigten ein. Sie reiste mit ihrem Mann und ihrer Schwester an. Das Ehepaar Mistele war die ersten zwei Tage noch mit im Haus, danach verreisten sie selbst. Und ließen die fremden Menschen bei sich wohnen.
Weg vom Materiellen
»Wir waren mutig«, sagt Günther Mistele. »Und wir vertrauten den Gästen.« Angst, dass ihr Zuhause nicht in guten Händen sei, habe er nicht gehabt. »Man muss über dem Materiellen stehen«, ist er überzeugt. Sie wurden nicht enttäuscht. Die vorübergehenden Bewohner hinterließen ihr Haus makellos. Wie es auch die allermeisten Male der Fall war. Bereits 18 Mal hatten die Misteles Gäste. Dabei habe es nur zwei Mal Kleinigkeiten zu beanstanden gegeben. Sollte doch mal etwas passieren, bietet HomeExchange eine Garantie für den Gastgeber.
Selbst hatten die Misteles auch andere Erfahrungen gemacht. Ihre erste Unterkunft über HomeExchange war eine Wohnung auf Jamaika, die sie während einer Kreuzfahrt bezogen. Angeboten von einem in London arbeitenden Anwalt. In der Karibik bot sich ihnen allerdings ein ernüchterndes Bild. »Es war unordentlich, es regnete durchs Dach, die Küche war nicht zu benutzen«, erzählt er. Sie blieben trotzdem. »Zum Schlafen hat es gereicht«, sagt der erfahrene Camper trocken.
Für viele wäre das schon Grund genug gewesen, den Haustausch nicht mehr zu nutzen. Nicht aber für die Misteles. Zu reizvoll sind für sie die Vorzüge. Man sei nicht immer in standardisierten, »toten« Hotelzimmern, sagt er. Im Gegenteil schätzten er und seine Frau, dass man das Gefühl der privaten Umgebung habe: »Da lebt was.« Die Unterkunft, die man über einen Haustausch bekommt, sei in der Regel »großzügiger«.
Großer Aufwand nötig
Aber das System hat nicht nur Vorteile. »Wenn man konkret an einen Ort will, muss man sehr viele Anfragen stellen und wartet auf die Antworten teilweise sehr lange«, gibt Mistele zu. »Das sind schon viele Stunden Aufwand, die man in eine Unterkunft stecken muss.« Aktuell ist das Ehepaar auf der Suche nach einer Unterkunft auf den Kanaren. Dabei habe seine Frau bereits 50 bis 100 Anfragen gestellt und dabei erst eine Antwort erhalten. Und eine Antwort alleine macht noch keinen Urlaub. Schließlich muss der Zeitraum passen und nicht zuletzt die Chemie zwischen den Tauschpartnern. »Manchmal ist es leidlich«, meint Mistele. »Aber als Schwabe reizt es mich natürlich schon, nichts bezahlen zu müssen.«
Die Misteles gehen also weiter auf die Suche nach Unterkünften auf der ganzen Welt. Wie viele andere auch. Und es werden immer mehr. HomeExchange hat sich seit seiner Gründung stetig vergrößert. Nach eigenen Angaben ist die Community seit 2022 um 175 Prozent gewachsen, in Deutschland sogar um 193 Prozent. Inzwischen gibt es 224.000 aktive Nutzer, in Deutschland sind es 7.400, davon 587 in Baden-Württemberg. Vergangenes Jahr wurden weltweit 462.000 Wohnungen über HomeExchange bezogen. 1.350 Wohnungstausche gab es in Baden-Württemberg. Es sieht so aus, als ob in der Wohnung der Misteles noch viele weitere Gäste ihre Heimat in der Fremde finden würden. (GEA)