STUTTGART. Fast jeder zweite Bürger, genauer 47,1 Prozent, fühlt sich nachts ohne Begleitung auf der Straße nicht sicher. Das ist das Ergebnis einer Befragung, die das Institut für Kriminologische Forschung Baden-Württemberg im Auftrag des Innenministeriums durchgeführt hat. Eine beunruhigende Zahl könnte man meinen. Innenminister Thomas Strobl (CDU) sieht die Ergebnisse der Studie aus der anderen Perspektive und sagt: »Die überwiegende Mehrheit der Menschen im Land fühlt sich sicher und hat großes Vertrauen in unsere Polizei.« Rund drei Viertel der Befragten hatten angegeben, die Polizei sei da, wenn man sie brauche.
Ralf Kusterer, Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft, kritisiert die Reaktion des Innenministers. Er spricht von »schönreden« und »herunterspielen«. Mit der »scheinbaren Strategie Strobls, ständig positive Pressemitteilungen zu verteilen, um sich selbst in ein gutes Licht zu setzen«, könne man die Bürgerinnen und Bürger nicht darüber hinwegtäuschen, wie es tatsächlich im Land aussehe, so Kusterer.
STUDIE ZUM SICHERHEITSEMPFINDEN DER BÜRGER IM LAND
Alleine nachts im öffentlichen Nahverkehr sind Ängste groß
Die Studie zum Sicherheitsempfinden im Land wurde im Herbst 2023 vom Institut für Kriminologische Forschung Baden-Württemberg durchgeführt. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse aber erst im Januar 2025. Am stärksten ausgeprägt ist das Unsicherheitsgefühl laut Studie nachts ohne Begleitung im öffentlichen Personennahverkehr (54,5 Prozent eher oder sehr unsicher). 47,1 Prozent fühlen sich nachts ohne Begleitung im öffentlichen Raum unsicher. Nachts ohne Begleitung in der eigenen Wohngegend fühlen sich dagegen 76 Prozent eher oder sehr sicher. In der eigenen Wohnung oder im eigenen Haus fühlen sich sogar 93,3 Prozent eher oder sehr sicher. Interessant ist, dass sich fast jeder Zweite bei der Nutzung sozialer Medien unsicher fühlt. Nur 5 Prozent der Opfer, die sexuell bedrägt wurden, zeigten dies auch an. Nur knapp die Hälfte der Bürger sieht die Sichtbarkeit der Polizei im öffentlichen Raum als ausreichend an. (kali)
Doch wie sieht es mit dem Sicherheitsgefühl der Bürger und der tatsächlichen Sicherheitslage im Südwesten denn aus? Laut dem Polizeigewerkschafter in Bezug auf das Sicherheitsgefühl jedenfalls bei Weitem nicht so, wie es die Befragung, die bereits vor über einem Jahr durchgeführt wurde und somit mit »total veraltete Zahlen« arbeite, suggerieren wolle. »Der Nutzen der Studie ist sehr gering und geht nach unserer Auffassung gegen Null«, so Kusterer.
Der Gewerkschafter zieht in Sachen Sicherheitslage eine düstere Bilanz. »Wir sind der Auffassung, dass sich die Sicherheitslage tatsächlich verschlechtert hat.« Baden-Württemberg habe sich in den vergangenen Jahren verändert: Bandenkriege mit Handgranaten und Toten im Großraum Stuttgart bis Göppingen, immer mehr Angriffe auf Polizeibeamte, immer mehr Messerangriffe. Diese Taten und andere hätten sich seiner Einschätzung nach im letzten Jahr negativ auf das Sicherheitsgefühl der Bürger ausgewirkt, die Studie hätte diese Entwicklung noch gar nicht berücksichtigt.
Streit um Sicherheitslage
Professor Jörg Kinzig, Direktor des Instituts für Kriminologie an der Uni Tübingen, sieht die Ergebnisse der Befragung jedoch durch andere Studien bestätigt. Das Bundeskriminalamt im Jahr 2020/21 und das Landeskriminalamt Niedersachsen in 2023 hätten vergleichbare Befragungen durchgeführt. Das Sicherheitsgefühl von Bürgern in Baden-Württemberg nachts ohne Begleitung im öffentlichen Personennahverkehr sei sogar etwas größer als die Werte, die für den Bund und für Niedersachsen ermittelt wurden.
»Wenn der Innenminister sagt, das Land sei tendenziell sicher, die Kriminalitätszahlen seien niedrig, dann würde ich dem recht geben«, sagt Kinzig. Auf Basis der Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) läge die sogenannte Häufigkeitszahl, also die Zahl, die Straftaten pro 100.000 Einwohner angibt, zuletzt im Jahr 2023 mit 5.272 sehr niedrig. »Lässt man die Pandemiejahre 2020 und 2021 außer Acht, war dies sogar der zweitniedrigste Wert in den letzten 20 Jahren.«
Der Kriminologie-Professor sagt aber auch: »Die Zahlen der Statistik bilden nur das Hellfeld ab, sie sind daher nur ein Teil der Realität.« Dunkelfelderhebungen gäbe es bisher in Deutschland zu wenig. Als sogenanntes Dunkelfeld werden begangene Straftaten bezeichnet, die bei der Polizei nicht bekannt werden. »Tendenziell sollten aber die realen Daten keinen Anlass zu einer besonderen Beunruhigung geben«, meint Kinzig.
Positiv sei, so der Wissenschaftler aus Tübingen, dass im Land eine derartige Befragung zum Sicherheitsempfinden nach langen Jahren des Abwartens nun überhaupt durchgeführt wurde. »Wertvoll werden solche Befragungen vor allem dann, wenn sie in regelmäßigen Abständen erfolgen. Denn erst dann kann man sehen, wie sich das Sicherheitsgefühl über einen längeren Zeitraum entwickelt, ob es etwa zu- oder abnimmt.«
Tatsächlich habe die Gewaltkriminalität in Baden-Württemberg nach der PKS im Jahr 2023 um 8,8 Prozent zugelegt, so Kinzig. Der Anstieg der Gewaltkriminalität ist aus Sicht des Kriminologen auch auf ein Bevölkerungswachstum zurückzuführen. »Nicht auszuschließen ist zudem, dass die Menschen gegenüber Gewalthandlungen sensibler geworden sind und derartige Straftaten eher als früher zur Anzeige bringen.«
Messerdelikte fördern Ängste
Polizeigewerkschafter Kusterer sieht die Studie als Anlass, seinen Forderungen nach mehr Investitionen in die innere Sicherheit neuen Nachdruck zu verleihen. Der Landeshaushalt habe bei Weitem nicht die finanziellen Mittel zugewiesen, die erforderlich seien, um die Polizei richtig auszustatten. Er fordert deutlich mehr Personal bei der Polizei, zudem die Bereitstellung neuester Technik.
Denn ein wesentlicher Faktor der Kriminalitätsvorbeugung und damit Verhinderung von Straftaten sei die Wahrscheinlichkeit, bei der Tat erwischt zu werden, betont Kusterer. Diese werde »aber immer geringer«. Auch die geringe Polizeipräsenz im öffentlichen Raum aufgrund fehlenden Personals wirke sich auf die Sicherheit wie auch das Sicherheitsempfinden der Menschen aus.
Eine Sprecherin des Innenministeriums teilt mit, dass die Studie zum Sicherheitsempfinden der Baden-Württemberger nun alle drei Jahre durchgeführt werden soll. Die Ergebnisse der ersten Untersuchung seien »allenfalls eine Momentaufnahme« gewesen, viel wichtiger als diese sei die langfristige Entwicklung. »Aus diesen Daten kann man dann wirkliche Maßnahmen ableiten«, so Katharina Lutz-Schädler.
Die ehemalige Polizistin weiß aber auch: »Aggressionsdelikte beeinflussen das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger in besonderem Maße.« Diese machten laut Innenministerium im Jahr 2023 (von 2024 liegen noch keine Zahlen vor) 12 Prozent der Straftaten im öffentlichen Raum aus. Rund 60 Prozent davon machten vorsätzliche einfache Körperverletzungen aus (17.551 Fälle). Rund 10 Prozent davon (29.547 Fälle) entfallen auf ausländerrechtliche Verstöße. Messerangriffe machten nur 0,5 Prozent aus (rund 1.300 Fälle). »Auch wenn Messerdelikte einen vergleichsweise geringen Anteil an den Aggressionsdelikten im öffentlichen Raum haben, können diese ein großes Unsicherheitsgefühl auslösen«, bestätigt Lutz-Schädler.
Zur Kritik des Polizeigewerkschafters sagt die Vertreterin des Innenministeriums: »Wir tun sehr viel für die Polizei, haben etwa in den letzten Jahren sehr viele junge Menschen im Polizeidienst eingestellt.« Sie versichert, die Polizei sei sehr gut ausgestattet. (GEA)