WYHL. Barbaralore Willmanns furchige Hände führen das Messer geübt durch den Eisbergsalat. Die 93-Jährige sitzt mit Maria Hermle an einem kleinen Tisch in der Küche der »Dorfblick«-Wohngemeinschaft im Haus Rheinaue in Wyhl. Es ist etwa 11 Uhr morgens, Zeit, das Mittagessen vorzubereiten. Die 24-jährige Mitarbeiterin Anna Panarisi kocht, während die beiden älteren Damen ihr zur Hand gehen. Willmann und Hermle sind zwei von 56 Bewohnern im Haus Rheinaue, das in vier Wohngemeinschaften aufgeteilt ist. Jede Gemeinschaft kocht, wäscht und lebt zusammen. »Alltag ist Therapie«, lautet das Motto. Bewohner helfen nach ihren Möglichkeiten mit, was ihnen Struktur gibt und sie fit hält.
Solche WGs gibt es bereits an anderen Orten. Das Besondere im baden-württembergischen Wyhl, unweit der französischen Grenze, ist jedoch nicht die Form der Wohngemeinschaft, sondern, dass man Pflege hier flexibler handhabt. Möglich ist das, weil in der stationären Einrichtung ambulantes Leistungsrecht gilt. Weil das Stammpersonal die Grundleistungen erbringt, Angehörige verbindliche Leistungen übernehmen und darüber hinaus ambulante Dienste zum Einsatz kommen. Das Haus Rheinaue ist ein Pilotprojekt für die »stambulante Versorgung«, ein Wort, das stationäre und ambulante Pflege vereint. Es ist das einzige seiner Art und verfolgt einen Ansatz, der in Deutschland bisher fehlt.
Dabei sind neue Wege in der Pflege dringend notwendig. Fast fünf Millionen Menschen sind in Deutschland aktuell pflegebedürftig, die nächsten Jahre werden es wegen der Alterung der Gesellschaft mehr werden. Gleichzeitig herrscht Fachkräftemangel. Immer mehr Pflegebedürftige müssen also von immer weniger Pflegekräften betreut werden.
Gründer kommt aus Mössingen
Seit acht Jahren läuft das stambulante Versorgungsmodell als Pilotprojekt. Dabei war das Modell gesetzlich auf drei Jahre angelegt. Was danach passieren sollte, war unklar. Daher wurde das Modellprojekt verlängert – Jahr um Jahr, die gesetzliche Grundlage fehlt bis heute. »Das war nicht zu Ende gedacht«, sagt Kaspar Pfister, Gründer und Geschäftsführer der privaten Benevit Gruppe mit Sitz in Mössingen die auch das Haus Rheinaue in Wyhl betreibt. 2021 gab es dafür schon mal eine Gesetzesinitiative, doch so weit kam es schlussendlich nicht. Die Ungewissheit ist für alle belastend. Vor allem zum Ende des Jahres hin, wenn der Modellstatus ausläuft. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte immerhin Ende März gesagt, dass das Konzept in ganz Deutschland möglich gemacht werden soll.
Heide Sommer ist erst Anfang dieses Jahres hier eingezogen. Sie hat Möbel von zu Hause mitgebracht. Ein ausladender grüner Sessel thront neben dem Fenster, ein kleines Beistelltischchen ist mit einer Spitzentischdecke bedeckt. Eine Plüschkatze schläft eingerollt auf ihrem Bett und sieht ziemlich echt aus. Spricht man sie darauf an, freut sie sich. Barbaralore Willmann wohnt bereits seit September hier. Zusammen mit ihrem Mann zog sie ins Haus Rheinaue. Im Februar starb er, nach 62 Jahren Ehe. Leicht war es für Barbaralore Willmann nicht, danach hier alleine zu sein. Aber sie weiß die Gemeinschaft um sich herum zu schätzen. »So langsam komme ich wieder hier an«, sagt sie und lächelt.
In ihrer WG gibt es heute Sellerie-Kartoffel-Suppe, die auf einer Tafel gut lesbar angekündigt ist. Mitarbeiterin Panarisi lobt den Fleiß der beiden älteren Damen: »Ich habe die alle durch die Bank weg wirklich lieb.« »Wir ham se auch lieb«, erwidert Hermle. Im Hintergrund falten manche Bewohner Wäsche, andere spielen Karten, unterstützt von Präsenzkräften, die keine medizinische, aber eine hausinterne Ausbildung haben und bei alltäglichen Aufgaben helfen.
Diese Fachkräfte übernehmen die Rolle des pflegenden Angehörigen, eine Mischung aus Pflegehilfskraft, Hauswirtschaft und Alltagsgestaltung. Die Pflegebedürftigen haben alle ihre eigenen Jobs im Haus: in der Küche, im Haus, im Garten. Manche Aufgaben sind beliebter als andere. »Es ist sehr begehrt, sich um die Hasen im Garten zu kümmern«, sagt Einrichtungs- und Hauswirtschaftsleitung Bettina Triantafyllou. Da müsse man innerhalb des Hauses manchmal Lösungen finden.
Ein Platz in Wyhl kostet aktuell etwa 2.700 Euro, eine vergleichbare stationäre Einrichtung in Baden-Württemberg liegt laut Pfister im ersten Jahr bei etwa 3.700 Euro. Im Haus Rheinaue kommt man mit weniger Pflegefachkräften beim Stammpersonal aus als vergleichbare stationäre Einrichtungen. Denn die tagsüber anwesenden Präsenzkräfte übernehmen Aufgaben, die im stationären Bereich zum Teil von Pflegekräften ausgeübt werden, für die man aber eigentlich kein medizinisches Fachwissen benötigt – Betten abziehen oder Pflegebedürftige auf die Toilette bringen etwa. Oder Angehörige kümmern sich darum: Sie können jederzeit kommen und im Haus mitarbeiten. Derzeit tun das 28 von ihnen, sie waschen Wäsche oder helfen bei der Zimmerreinigung. Dadurch können sie Kosten sparen und haben zudem mehr Einblicke in den WG-Alltag. Das macht das Ganze günstiger.
Mehr Kommunikation nötig
Die Pflegefachkräfte im Haus kümmern sich dabei um eine Grundversorgung wie Medikamente ausgeben oder Spritzen setzen. Wer mehr Unterstützung benötigt, kann entweder einen ambulanten Pflegedienst oder den Pflegedienst der Benevit Gruppe dazu buchen. Wer das nicht aus Eigenmitteln bezahlen kann, hat Anspruch auf Sozialhilfe. Denn weil hier ambulantes Leistungsrecht gilt, haben Personalschlüssel und Quoten, die in stationären Heimen sonst verpflichtend sind, keine Gültigkeit. Im Haus Rheinaue macht das vieles entspannter. »Ich habe schon als Pflegedienstleitung gearbeitet, da haben wir am Fließband gepflegt«, berichtet Christiane Kleemann vom zentralen Qualitätsmanagement der Benevit Gruppe. Auch Hausleiterin Triantafyllou sieht die Vorteile des Konzepts. »Wir müssen mehr kommunizieren und mehr anbieten.« Aber es lohne sich. Die Arbeit werde auf mehr Schultern verteilt, die Angehörigen hätten weniger Schuldgefühle, wenn jemand aus der Familie ins Heim müsse. Sie könnten besser einschätzen, was im Haus vor sich geht und mehr dabei sein. Manchmal, fügt ein Mitarbeiter hinzu, würden die erst nicht verstehen, dass ihre Lieben noch im Haus mitarbeiten sollen. »Dabei ist genau das eben das, was sie geistig und körperlich fit hält«, sagt er.
Tatsächlich bescheinigt ein aktuelles Gutachten des Gesundheitsforschungsinstituts IGES für den Spitzenverband Bund der Krankenkassen dem Konzept, dass die Bewohner länger in einem niedrigen Pflegegrad verbleiben und weniger oft ins Krankenhaus müssen. (GEA)
AMBULANTE ALTENHILFE
Auch in der Region dürfen Bewohner mithelfen
In der Region betreibt die Samariterstiftung im Bereich der Altenhilfe in Tübingen und in Pfullingen je eine Pflegewohngemeinschaft. Die ambulant betreute Pflegewohngemeinschaft in Pfullingen befindet sich in der Hohe Straße in einem 2014 neu erbauten Mehrfamilienhaus. Diese Wohngemeinschaft gleicht einem großen Familienhaushalt. Sechs Menschen mit Betreuungsbedarf können rund um die Uhr versorgt werden. Alltagsaktivitäten wie Kochen, Backen und Aufräumen finden gemeinsam statt. Eine wichtige Säule des Konzepts bildet die Unterstützung durch Angehörige und durch ehrenamtlich Engagierte. Die BruderhausDiakonie schreibt auf GEA-Anfrage, dass Hausgemeinschaften der Seniorenzentren oder auch in den ambulanten Pflegewohngemeinschaften die Möglichkeit, generell die Möglichkeit haben, sich an Tätigkeiten zu beteiligen. Angehörige können sich auf Wunsch ehrenamtlich engagieren. Das Konzept von Wyhl bei Freiburg setzt die Bruderhaus Diakonie jedoch in dieser Form nicht um. (GEA)