STUTTGART/REUTLINGEN. Nur wenige Wochen nachdem alle Viertklässler in Baden-Württemberg erstmals den einheitlichen Leistungstest Kompass 4 machen mussten, gibt es heftige Kritik. Eine Umfrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ergab: 80 Prozent der befragten Lehrkräfte sehen bei den Ergebnissen größere Abweichungen zur eigenen Einschätzung der Schüler, ein Großteil der Schüler konnte die Mathematik-Aufgaben in der vorgegebenen Zeit nicht beantworten. Vor allem für Kinder mit Sprachdefiziten seien die Textaufgaben zudem kaum zu bewältigen gewesen. In Mathematik wurde die Aufgabenstellung von nur sieben Prozent als inhaltlich angemessen bewertet. Zwei Drittel der Lehrkräfte bezeichnet das neue Verfahren in der Umfrage als überflüssig und wenig sinnvoll. An der Umfrage beteiligten sich 1.131 Lehrkräfte, die GEW-Mitglieder sind.
Die GEW sieht den Test nun als »gescheitert« an und fordert von Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) den Stopp des laut GEW »übereilt eingeführten Verfahrens«. »Wir brauchen kein neues Grundschul-Abi, das Kinder und Eltern mit fragwürdigen Inhalten unnötig unter Druck setzt«, sagte Monika Stein, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Baden-Württemberg. Die Kultusministerin solle lieber auf Tausende pädagogische Profis in den Grundschulen hören und auf deren Beratungskompetenz vertrauen, so der Verband.
Die GEW sieht den Test als gescheitert an und fordert dessen Stopp
Zum Hintergrund: Mit der Rückkehr zu G9 änderte das Kultusministerium in diesem Schuljahr das Verfahren zur Grundschulempfehlung. Diese wurde nun wieder verbindlicher. Die Empfehlung soll künftig aus drei Komponenten bestehen: Lehrerempfehlung, Leistungstest (Kompass 4) und Elternwunsch. Eine Anmeldung am Gymnasium wird künftig nur dann möglich sein, wenn neben dem Elternwillen entweder die pädagogische Gesamtwürdigung der Schule dies empfiehlt oder die entsprechenden Leistungen im Test erreicht wurden. Das neue Verfahren wurde eingeführt, noch bevor die entsprechenden Änderungen im Schulgesetz vom Landtag beschlossen wurden. Die GEW erwägt daher nun auch eine juristische Prüfung.
Auch Edgar Bohn, Vorsitzender des Grundschulverbands im Land, kritisierte den Test: »Kompass 4 hilft uns nicht wirklich weiter, jedenfalls nicht so, wie er dieses Jahr durchgeführt wurde.« Vor allem der Mathe-Test sei »deutlich zu schwer« gewesen. Es sei ein Riesendruck an den Schulen erzeugt worden. »Es gab heulende Kinder und verzweifelte Lehrkräfte«, berichtet Bohn dem GEA. Seiner Meinung nach habe man mit der Einführung der verbindlicheren Grundschulempfehlung völlig aus dem Blick verloren, was dieser Test mit den Kindern mache.
Vor allem für Kinder mit Sprachdefiziten schwierig
Die Schulleiterin der Reutlinger Jos-Weiß-Schule und Geschäftsführende Schulleiterin für Grund-, Werkreal-, Gemeinschafts-, Realschulen und Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren der Stadt Reutlingen, Christiane Stieler, berichtet, dass vor allem auch der Bewertungsmaßstab des Mathe-Tests von den Lehrkräften als ungerecht bewertet wurde. »Ich gehe davon aus, dass es hier eine Korrektur geben wird«, sagt Stieler. Auch die Menge in der geforderten Zeit habe es den Schülern sehr schwierig gemacht, der Mathe-Test habe einen Umfang von ganzen zehn Seiten gehabt. »Vor allem für Kinder mit Sprachdefiziten war es extrem schwer«, bestätigt die Reutlinger Rektorin.
Ein Sprecher des Kultusministeriums sagte in Bezug auf die Kritik des GEW dem GEA: »Dass die GEW sich klar gegen Kompass 4 und die Grundschulempfehlung positioniert, hat sie von Beginn an, also lange vor der Durchführung von Kompass 4, deutlich gemacht.« Anderen Medien sagte die Pressestelle noch, dass das Meinungsbild des Verbands aus diesem für sie keine Überraschung sei. Das Kultusministerium, so die Pressestelle, werde nun abwarten, bis alle Schulen ihre Ergebnisse zurückgemeldet haben und diese dann landesweit vorliegen. »Anhand der Auswertung der vollständigen Daten wird dann über das weitere Vorgehen entschieden. Das wird vermutlich im Februar der Fall sein.«
Scharfe Kritik von Lehrkräften, Verbänden und Opposition
Auf der Plattform Instagram sollten sich Lehrkräfte unter einem Beitrag der GEW zu ihren Erfahrungen mit Kompass 4 äußern. Ein Nutzer schrieb: »Die Inhalte in Mathematik entsprachen fast gar nicht den Unterrichtsinhalten!« Eine andere schrieb: »Nach Vera 3 bin ich durch Kompass 4 nun selber völlig demotiviert. Mir tut es vor allem für die Kinder leid. Das haben sie nicht verdient.«
Auch die schulpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, Kathrin Steinhülb-Joos, übt Kritik: »Mit der überstürzten und unausgereiften Einführung von Kompass 4 schafft Grün-Schwarz noch mehr Ungerechtigkeit in unserem Bildungssystem.« Das belege nun auch die Umfrage der GEW. Wenn zwei Drittel der befragten Lehrkräfte der Meinung seien, dass Kompass 4 in Bezug auf die Grundschulempfehlung wenig bringe oder gar überflüssig sei, so Steinhülb-Joos, zeige dies, dass Kompass 4 und eine verbindlichere Grundschulempfehlung so nicht tragbar seien. An den Grundschulen sollte es nicht darum gehen, Kinder zu demotivieren und auszusortieren, sondern zu stärken, so die Bildungsexpertin. »Wir brauchen kein Grundschulabitur, sondern mehr Förderung. Die verbindlichere Grundschulempfehlung war und ist ein schlechter Kompromiss von Grün-Schwarz, den sie sich wirklich hätten sparen können.« (GEA)