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Aktuell Varieté

Bananenrock und Burlesque-Show im Stuttgarter Friedrichsbau

Der Friedrichsbau in Stuttgart blickt auf eine turbulente 125-jährige Geschichte zurück

Tanzstar der 1920er- und 1930er-Jahre: Josephine Baker. FOTO: DPA
Tanzstar der 1920er- und 1930er-Jahre: Josephine Baker. FOTO: DPA
Tanzstar der 1920er- und 1930er-Jahre: Josephine Baker. FOTO: DPA

STUTTGART. Wer weiß, wie alles gekommen wäre, wenn Ludwig Grauaug kein so mutiger Mann gewesen wäre. Ein Jahr nach der Eröffnung des Friedrichbau-Varietés in der Stuttgarter Friedrichstraße im Jahr 1900 hatte Grauaug, Spross einer Wiener Theaterfamilie, die Intendanz des Theaters übernommen. Seinem Geschick und seinen guten Kontakten ist es voraussichtlich zu verdanken, dass er »die Baker« nach Stuttgart holte. So heißt es zumindest in einem Beitrag von Norah C. Allen für das Stuttgarter Stadtarchiv.

Das Auftreten von Josephine Baker sorgte in ganz Europa für Furore. Sie steht wie kaum eine andere Tänzerin zu Beginn des 20. Jahrhunderts für das moderne Tanztheater. Dennoch waren ihr Bananenrock, das typische Baker-Kostüm, und ihre vermeintlich wilden Tänze längst nicht überall wohl gelitten. In München erhielt sie ein Auftrittsverbot, in Berlin gab es deshalb Streit, und in Wien läuteten vor ihrem Auftritt sogar die Kirchenglocken als Warnung vor dem als unmoralisch empfundenen Auftritt. In Warschau wurde ihr Auftritt von der Polizei untersagt. Auch rassistische Anfeindungen blieben vor allem in ihrer Heimat, den Vereinigten Staaten, nicht aus.

Mario van der Linden, der aktuelle Vertriebschef des Friedrichsbau-Varietés, jedenfalls ist sicher: »Eigentlich sollte die Baker damals in München auftreten, aber die Münchner hatten nicht genug Mut.« Die Stuttgarter und Ludwig Grauaug aber waren aus anderem Holz geschnitzt. »Damit war das Varieté in Stuttgart endgültig geboren«, betont van der Linden. Im Parterre des Friedrichbaus befand sich ein Bierrestaurant, das von der Brauerei Wulle betrieben wurde. Geplant hatten das repräsentative Eckgebäude die Architekten Bihl & Wolz. Auftraggeber des 1899 begonnenen Neubaus war eine Tochtergesellschaft von Wulle. Eine Marmortreppe führte hinauf in den ersten Stock. Dort tauchten die Besucher in eine Traumwelt ein, in einen mit Weiß und Gold geschmückten Theatersaal voller Stuck, Putten und Blumen.

»Für Banausen ist die Baker nichts!«

Der Friedrichsbau werde häufig dem Jugendstil zugeschrieben, schreibt der Architekturhistoriker Klaus J. Loderer in einem Blog-Beitrag. Doch dies treffe nur für einige wenige Details zu. Vielmehr zeigten die Großform und die allermeisten Details »ein neobarockes Gepräge«, urteilt Loderer. Er nennt das 1900 eröffnete Vergnügungsetablissement deshalb ein »neobarocken Unterhaltungstheater«. Schon die erste Vorstellung am 1. September 1900 war ein Varietéprogramm, bei dem Tänzerinnen, Verwandlungskünstler, Tierdresseure und Sängerinnen auftraten.

Josephine Bakers Auftritt im Jahr 1929 in der Friedrichstraße war ebenfalls Teil eines abendfüllenden Programms. Neben ihr traten im 800 Zuschauer fassenden Saal die Akrobatikkünstler Damurs, der Rechen- und Gedächtniskünstler Emanuel Steiner, der Jongleur John Olms und die beiden Dressur-Schimpansen Bobby und Susi auf. Das Stuttgarter Neue Tagblatt schrieb begeistert: »Die Baker ist ganz naturnah und tanzt aus einem völlig ungebundenen rhythmischen Gefühl heraus.« Für Banausen indes sei »die Baker nichts«, lautete das Fazit. Ganz anders urteilte der Schwäbische Merkur: »Sie ist schon mit dem Beiwort genial bedacht worden, aber das muss ein Missverständnis sein.« Ihre Songs überschritten »ebenso wenig den Durchschnitt wie ihre Tänze«. Trotzdem füllte Grauaug im Friedrichsbau den Saal. Mitte der 1920er-Jahre hatte Stuttgart eine sehr junge Bevölkerung. Im Jahr 1925 war mehr als die Hälfte der Bürger unter 30 Jahre alt. Und das junge Publikum strömte in die Vergnügungsstätten und interessierte sich für Jazz, Tanz- und Varietéshows. Mario van der Linden: »Das Amüsement hatte in den 1920er-Jahre seinen Höhepunkt.« Zudem sagt er: »Das Varieté war das Internet von heute!« Denn vor den Shows wurden die Nachrichten vorgelesen, und »die Leute kamen auch ins Varieté, um die Neuigkeiten aus aller Welt zu erfahren«.

»Das Varieté war das Internet von heute!«

Zumal weitere Starauftritte folgten: der Clown Charlie Rivel, der Komiker Karl Valentin und die Schauspielerin Marita Gründgens traten ebenfalls im Friedrichsbau auf. Der große Kassner ließ als erster Zauberer der Welt einen Elefanten verschwinden, hier verblüffte Enrico Rastelli, der König der Jongleure, und der Schweizer Musikclown Grock rief sein legendäres »Nit mööööglich!«

1933 aber war Grauaug als Jude gezwungen, Stuttgart zu verlassen. Behördliche Diskriminierungen machten ihm das Leben zur Hölle. Er zog sich nach Wien zurück. Eine neue Ära begann: Willy Reichert übernahm die künstlerische Leitung des Theaters. Zusammen mit Oscar Heiler trat er selbst auf. Als die schwäbischen Kunstfiguren Häberle und Pfleiderer feierte das Humoristenpaar unzählige Triumphe. Reichert gab den knitzen Schwaben namens Pfleiderer, und Heiler spielte die Rolle des vornehmeren Häberle, der den Pfleiderer gern belehren will. 1943 dann war vorerst alles vorbei. Das Gebäude erlitt schwere Kriegsschäden. Nach dem alliierten Bombenangriff in der Nacht vom 25. auf den 26. Juli 1944 schließlich brannte der Friedrichsbau komplett aus.

Erst 1994 ging es weiter mit einem neu eröffneten Friedrichsbau Varieté in der L-Bank. Erste Geschäftsführerin wurde Gabriele Frenzel. Der Direktor des Circus Roncalli, Bernhard Paul, wurde zum künstlerischen Leiter berufen. »Kapriolen« hieß 1994 die erste Show. Doch nach 20 Jahren war auch dieser Abschnitt zu Ende. Die L-Bank schickte die Kündigung, da sie das Gebäude selbst nutzen wollte. »Da standen wir erneut auf der Straße«, blickt Mario van der Linden zurück. Doch Gabriele Frenzel gab sich nicht geschlagen und »kämpfte wie eine Löwin, dass es weiterging«, erinnert sich der Stuttgarter Kulturjournalist Nikolai B. Forstbauer. Mit Erfolg: 2014 zog das Friedrichsbau Varieté in ein neues Holzhaus auf einem städtischen Gelände neben dem Theaterhaus auf dem Pragsattel.

Nun feiert das Varieté mit einer Burlesque-Show noch bis zum 1. Juni sein 125-jähriges Bestehen. Wobei der künstlerische Leiter Ralph Sun betont: »Varieté muss sich ständig verändern. Jedes Thema muss immer wieder neu beleuchtet werden.« So wird die aktuelle Show zur Zeitreise durch die Geschichte des Burlesque. Sie beginnt mit dem Ende des 19. Jahrhunderts, beleuchtet dann die legendären 1920er-Jahre und endet im dritten Teil mit dem Neo-Burlesque von heute. Durch diese moderne Show sei »das Publikum wieder jünger geworden«, sagt Sun nicht ohne Stolz. Denn am schönsten sei es doch, »wenn wir im Saal alle Generationen vereinen können«. (GEA)

HÄBERLE UND PFLEIDERER

Aktuell feiert das Friedrichsbau Varieté mit der Show »Burlesque Chronicles« 125 Jahre Varieté in Stuttgart. Die Burlesque-Show ist noch bis 1. Juni zu sehen. Zu der langen Historie des Varietés gehören auch die beiden Ikonen des schwäbischen Humors Willy Reichert und Oscar Heiler alias »Häberle und Pfleiderer«. Bis 11. Mai sind die zwei, gespielt von Jörg Pauly und Monika Hirschle, bei dem gleichnamigen Theaterstück »Häberle und Pfleiderer« in der Komödie im Marquardt zu sehen. Jörg Pauly spielt den Häberle. Die vom Verein »Schwäbische Mund.art e. V.« mit dem Sebastian-Blau-Ehrenpreis ausgezeichnete Monika Hirschle ist die Autorin der szenisch-musikalischen Hommage »Häberle und Pfleiderer« und spielt den Pfleiderer. (fs)