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»Alarmierend« Verdi fürchtet Personalflucht in Südwest-Kitas

In Tübingen sollen Eltern ihre Kinder demnächst schon mittags aus der Kita abholen und überall im Südwesten dürfen die Kita-Gruppen größer sein - alles wegen fehlenden Personals. Verdi warnt nun dringend davor, die falsche Maßnahme zu ergreifen.

Streik
Beschäftigte nehmen an einem Warnstreik teil. Foto: Stefan Sauer
Beschäftigte nehmen an einem Warnstreik teil.
Foto: Stefan Sauer

Die ohnehin angespannte Personalsituation in vielen Kitas im Südwesten könnte sich weiter zuspitzen. Die Gewerkschaft Verdi und die Hochschule Fulda legen mit einer Umfrage - dem Kita-Personalcheck - den Finger in die Wunde. Demnach spielen 7,1 Prozent des befragten pädagogischen Personals mit dem Gedanken, das Berufsfeld komplett zu verlassen. Sogar 27 Prozent erwägen, ihre Arbeitszeit zu reduzieren - vor allem wegen der hohen Belastung. Verdi sprach bei der Vorstellung am Freitag in Stuttgart von einem alarmierenden Ergebnis. Dieses fällt mitten in bereits hitzig geführte Debatte. Immerhin geht es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Sicherheit und Geborgenheit der Kinder.

Wie konkret das Problem ist, zeigte sich jüngst in Tübingen: Dort beschloss der Gemeinderat, dass zahlreiche Kitas in der Stadt künftig wegen Personalmangels die Öffnungszeiten verkürzen müssen. Viele Eltern bringt das in die Bredouille, ganze 50 Gruppen der städtischen Kitas schließen dann schon um 13.15 Uhr.

Was genau hat der Kita-Personalcheck ergeben?

Während rund ein Drittel der Befragten so unglücklich oder gestresst im Job ist, dass sie entweder ganz den Beruf wechseln oder Arbeitszeit reduzieren wollen, könnten 9,3 Prozent sich auch vorstellen, aufzustocken. Allerdings unter der Voraussetzung, dass sich die Bedingungen verbessern. 44 Prozent der pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beklagten in der Umfrage eine insgesamt zu hohe Belastung.

Wieso ist die Personalsituation so schlecht?

Experten haben schon länger davor gewarnt, dass sich die Situation zuspitzen würde. Der Fachkräftemangel komme nun akut in der Praxis an, sagte Nancy Hehl, Expertin für die Themen Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit bei Verdi. Dabei verdienen Erzieherinnen und Erzieher inzwischen deutlich mehr als noch vor einigen Jahren. Das Einstiegsgehalt lag im Jahr 2005 noch bei 1960 Euro brutto monatlich - seit 2022 sind es 3272 Euro. Doch bis dahin muss man es erstmal schaffen: Auszubildende verdienen in den ersten drei Jahren normalerweise gar nichts, im vierten Jahr - dem Anerkennungsjahr - gibt es eine sogenannte Praxisvergütung.

Eine wichtige Rolle spielt nach Ansicht der Experten aber vor allem auch die Arbeitsbelastung. Die Erzieherinnen und Erzieher hätten einen sehr hohen Leistungs-Ethos, sagte Nikolaus Meyer, Professor an der Hochschule Fulda und Leiter der Befragung. Sind etwa die Gruppen zu groß oder gebe es zu viele »Nebenbei-Aufgaben«, könnten sie ihren eigenen Ansprüchen an die Betreuung der Kinder nicht gerecht werden.

Was schlägt Verdi vor?

Aus Sicht der Gewerkschaft gibt es mehrere Stellschrauben - doch eines dürfe nicht dazu gehören: Die Qualität abzusenken, also beispielsweise Gruppen zu vergrößern. »Wenn wir nicht noch mehr Fachkräfte verlieren wollen, dann müssen wir die Qualität halten oder erhöhen«, sagte Hehl. Andernfalls werde sich das Problem noch verschärfen. Eine Notlösung sei dann eher, die Quantität vorübergehend zu senken, also beispielsweise die Öffnungszeiten zu verringern - wie nun in Tübingen beschlossen.

Außerdem wirbt Verdi dafür, die Ausbildung attraktiver zu machen und das pädagogische Personal zu entlasten. Besonders in kleineren Kitas könnten demnach Arbeitskräfte in den Bereichen Verwaltung, Hauswirtschaft und Technik eingesetzt werden, damit sich die Erzieherinnen mehr auf die Betreuung der Kinder fokussieren können. Positiv sei das noch recht neue vergütete, praxisintegrierte Ausbildungsmodell (PiA), das sich vor allem an Quereinsteiger richtet.

Wie reagiert die Politik?

Der Sprecher für frühkindliche Bildung der SPD-Landtagsfraktion, Daniel Born, fordert von der Landesregierung eine »Fachkräfteoffensive«. »Wir brauchen mehr Studien- und Ausbildungsplätze in Voll- und Teilzeit, müssen Verwaltungs- und Hauswirtschaftskräfte zur Entlastung des pädagogischen Personals einstellen, Aufstockungs- und Rückkehrboni auszahlen, den Direkteinstieg erleichtern und dann dafür sorgen, dass die Fachkräfte auch in den Kitas bleiben«, sagte Born laut Mitteilung. »Außerdem muss die grün-schwarze Landesregierung die praxisintegrierte Ausbildung stärken.«

Land und Träger arbeiteten bereits an Lösungen und Konzepten, um zusätzliches Personal zu gewinnen, sagte Kultus-Staatssekretär Volker Schebesta (CDU). »Wir versuchen bei allen unseren Maßnahmen die Balance zu halten zwischen der Belastung der Erzieherinnen und Erzieher sowie dem Betreuungsbedarf der Eltern. Denn es hilft uns nicht, wenn wir das belastete Personal zugunsten längerer Öffnungszeiten strapazieren und sie dadurch das Berufsfeld verlassen.«

Für die FDP-Fraktion sagte der Sprecher für frühkindliche Bildung, Dennis Birnstock: »Das Versorgungsdrama an Kitas nimmt immer schlimmere Züge an – und die Leidtragenden bleiben die Kinder, Eltern und vor allem das erzieherische Personal.« Die Landesregierung habe sich bei dem Thema bislang dem Müßiggang hingegeben. Deshalb werde FDP/DVP-Fraktion am Mittwoch ein Positionspapier zu diesem Thema vorstellen.

© dpa-infocom, dpa:230210-99-547144/5