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Das planen die Jungen im Reutlinger Gemeinderat

Der Reutlinger Gemeinderat wird jünger. Mit acht Räten unter 30 sinkt das Durchschnittsalter des neugewählten Gremiums von 61 auf 54 Jahre. Was sind die Hoffnungen der jungen Neuen? Wo sehen sie Hürden, Hemmnisse, Hindernisse?

Künftig werden mehr jüngere Räte im Sitzungssaal des Reutlinger Gemeinderats über die Geschicke der Stadt debattieren und entsch
Der Sitzungssaal des Reutlinger Gemeinderats. Foto: Archiv
Der Sitzungssaal des Reutlinger Gemeinderats.
Foto: Archiv

REUTLINGEN. Das neue Reutlinger Stadtparlament ist jünger als sein Vorgänger. Mit acht Räten unter 30 Jahren sinkt das Durchschnittsalter des neugewählten Gremiums von 61 auf 54 Jahre. Zudem entscheidet mit einer 16-Jährigen die jüngste Gemeinderätin aller Zeiten mit über die Zukunft ihrer Heimatstadt. Was sind die Hoffnungen der jungen Neuen? Wo fürchten sie Hindernisse? Wir haben uns unter ihnen umgehört, dazu die bislang jüngste Stadträtin befragt, die schon eine Legislaturperiode erlebt hat, – und den Reutlinger OB, der sich noch gut an sein erstes Mal im Gemeinderat vor 30 Jahren erinnert.

Die Jüngste überhaupt: Eleanor Weber.
Die Jüngste überhaupt: Eleanor Weber. Foto: Archiv
Die Jüngste überhaupt: Eleanor Weber.
Foto: Archiv

Eleanor Weber (16), Grüne und Unabhängige. Die Schülerin aus der Oststadt verkörpert einen Superlativ, denn bei den Kommunalwahlen am 9. Juni war es erstmals möglich, dass in Baden-Württemberg Menschen ab 16 Jahren wählten und zur Wahl standen. Sie sei froh, die Chance bekommen zu haben, ihre Heimatstadt mitzugestalten, sagt sie. Die will sie nutzen. In den kommenden fünf Jahren hofft die 16-Jährige, Themen wie Nachtleben, Schulsanierungen und Klima-Gerechtigkeit, die vielen ihrer Altersgenossen am Herzen liegen, mehr Gewicht zu verleihen. Diesbezüglich habe der Gemeinderat in den vergangenen Jahren wenig umgesetzt. »Und das merke ich in meinem Alltag.« Da sie bei Fridays for Future (FFF) aktiv ist, hat die Zehntklässlerin schon mit dem Gemeinderat zusammengearbeitet und Fraktionssitzungen besucht. Ihre Kandidatur sei »gut überlegt«. Sie habe nicht vor, in naher Zukunft wegzuziehen. Wieviel Arbeit in dem kommunalpolitischen Ehrenamt steckt, weiß sie unter anderem durch das Praktikum bei einer Stadträtin.Die konservative Mehrheit im Gremium und vor allem, dass die AfD mit fünf Sitzen gestärkt aus der jüngsten Wahl hervorging, sieht sie als Problem. Bei allem Respekt vor einigen der langjährigen Räte fürchtet sie deren Blockadehaltung, »gerade, wenn es um Klimapolitik geht«. Dabei sei die Verkehrswende ein Thema, »bei dem wir auf regionaler Ebene viel Einfluss haben«

Erfahrener Jugendgemeinderat: Jaron Immer.
Erfahrener Jugendgemeinderat: Jaron Immer. Foto: Archiv
Erfahrener Jugendgemeinderat: Jaron Immer.
Foto: Archiv

Jaron Immer (18), Grüne und Unabhängige. Sich einsetzen »für jugendpolitische Themen« will auch Jaron Immer, der ebenfalls bei den FFF-Klimaaktivisten aktiv ist. »Die Jugend soll bei mehr Projekten beteiligt werden. Ich glaube, da können wir viel erreichen«, sagt der junge Mann, der den Wahlkampf neben seinen schriftlichen Abiturprüfungen bestritt. Wie jüngst am Federseeplatz sollte die Stadt »Orte schaffen, die konsumfrei sind« und auch durch ehrenamtliche Organisationen das Nachtleben stärken. Dazu gehört für den Betzinger unter anderem der Ausbau der Nachtbusse – auf Donnerstag- und Sonntagabende. Überhaupt wolle er in den nächsten Jahren die Verkehrswende und damit den Klimaschutz in Reutlingen voranbringen. Zum Beispiel durch die Wiederaufnahme der Quartiersbusse, die aufgrund des Corona-Lockdowns zusammengestrichen wurden, und eine höhere Bustaktung. Ihm ist ebenfalls bewusst, auf was er sich da einlässt: Den Zeitaufwand eines kommunalpolitischen Mandats lebte ihm seine Oma als SPD-Gemeinderätin vor; was ein Haushaltsplan ist, weiß der Abiturient aus dem Jugendgemeinderat, dem er seit 2020 angehört. Sein Wunsch, Umweltwissenschaften in Tübingen zu studieren, lasse sich mit dem Amt gut vereinbaren, ist er überzeugt. Zu den Hemmnissen, die seine Hoffnungen eindämmen könnten, zählt er die Finanzlage der Stadt, die »natürlich nicht einfach« sei. »Trotzdem kann man doch noch einiges machen.« Sorge bereiten ihm ebenfalls Rechtspopulisten. »Da muss man wirklich drauf achten, ob es Kräfte gibt, die mit der AfD kooperieren wollen.« Er hingegen wolle »Lösungen aufzeigen, nicht irgendwelchen Hass schüren«.

Für frische Ideen: Vincent Fischer.
Für frische Ideen: Vincent Fischer. Foto: Archiv
Für frische Ideen: Vincent Fischer.
Foto: Archiv

Vincent Fischer (21), WiR. »Ich hoffe, dass wir durch die neuen jungen Gemeinderatsmitglieder frische Ideen und eine Verbesserung der Lebensqualität in Reutlingen schaffen können«, teilt der Student nach seiner frisch bestandenen LKW-40-Tonner-Fahrprüfung mit. Eine Befürchtung sei, »dass Interessenskonflikte und Bürokratie einer effizienten und besseren Stadtentwicklung entgegenstehen«.

Ganz neu in der Politik: Anna Mylona.
Ganz neu in der Politik: Anna Mylona. Foto: Archiv
Ganz neu in der Politik: Anna Mylona.
Foto: Archiv

Anna Mylona (26), CDU. Die gelernte Bankkauffrau und Unternehmerin im Familienbetrieb »Alte Bank« ist komplett neu in der Politik. Es gebe keinerlei »familiären Berührungspunkte« mit dem Gemeinderat. Aber sie besuchte schon einige öffentliche Sitzungen. »Jetzt prasselt viel auf mich ein«, sagt sie, »das ist sehr interessant.« In der CDU-Fraktion seien nun mit Thomas Bader, Maximilian Menton und ihr drei neue Gesichter, die »frischen Wind reinbringen«. »Die Fraktionen möchten jünger werden, wie schön, dass das bei den Wählern so gut ankam.« Ihre wichtigsten Themen betreffen Wirtschaft, Sicherheit und Familien. Die Ansiedlung von zusätzlichem Gewerbe soll die Stadtfinanzen verbessern und die Innenstadt beleben. »Die Statistik sagt, wir sind eine der sichersten Großstädte Deutschlands« – das sollen junge Frauen wieder mehr spüren. Hohe Gebühren für die Kinderbetreuung sind für Familien ein Problem, das zum Fachkräftemangel beitrage. Sie weiß von vielen Freundinnen, die gern wieder arbeiten würden, sich aber die Kita-Gebühren nicht leisten können. Auch das will sie angehen.

Kompetenz ist wichtiger als das Alter: Maximilian Menton.
Kompetenz ist wichtiger als das Alter: Maximilian Menton. Foto: Archiv
Kompetenz ist wichtiger als das Alter: Maximilian Menton.
Foto: Archiv

Maximilian Menton (29), CDU. Der Arzt, der in der Innenstadt in Bahnhofsnähe lebt, steht kommunalpolitisch durchaus in einer familiären Linie: Seine Großmutter Ursula Menton saß 25 Jahre lang für die Freien Wähler im Stadtparlament. Warum er den Entschluss fasste, sich zu engagieren: »Irgendwann muss man aufhören zu meckern und selber etwas tun.« Auch oder gerade Leute mit hohem Bildungsstand und zeitlich anspruchsvollen, manchmal ausufernden Berufen. »Wir sind gesundheitspolitisch in der Region miserabel vertreten.« Das verursache Leid bei den Patienten. – und wird ganz klar sein Schwerpunkt sein. Ansonten: »Wir müssen den Hahn aufdrehen, Gas geben, bei Gewerbe- und Industrieentwicklung pragmatische Lösungen finden.« Prinzipiell würde er Reutlingen gern weder nach rechts noch nach links bewegen – sondern nach vorn. »Hauptsache, es geht voran!« Zu den Hindernissen gehören für ihn festgefahrene Strukturen. Denen möchte er »junge Energie, aber trotzdem Sachverstand« entgegensetzen. Kompetenz sei entscheidend, nicht das Alter.

Sieht viel Potenzial: Timo Widmaier.
Sieht viel Potenzial: Timo Widmaier. Foto: TRINKHAUS
Sieht viel Potenzial: Timo Widmaier.
Foto: TRINKHAUS

Timo Widmaier (30), Linke Liste. »Für den Gemeinderat bin ich noch jung, für die Links-Partei quasi ein Säugling«, sagt der Informatiker aus dem Stadtteil Ringelbach. Zu seinen Hoffnungen gehört, junge Menschen mehr einzubeziehen. Es gebe wenige explizit jugendbezogene Themen, aber Vieles, was deren Zukunft direkt betrifft: Klima, Bildung, Regionalstadtbahn, Gewerbeansiedlung – »manches wird für einen 14-Jährigen vielleicht erst in ein paar Jahren wichtig, wenn er eine Ausbildung machen möchte, aber all das geht junge Menschen an!« Das möchte er transparent machen. Und für seine Wähler, von denen ihn viele aus Jugendorganisationen, der Mobilen Jugendarbeit oder Schulsozialarbeit kennen, entsprechend aufbereiten. »Da ist noch viel Potenzial da.« Unterstützen statt vorgeben, lautet seine Devise. Das Ziel: »ehrlich kommunizieren statt schlechte Ergebnisse als guten Kompromiss zu verkaufen«. Das Mandat für den Kreistag hat er abgelehnt, da er seinen Fokus auf die Arbeit der Linken als Kleinsteinheit im Gemeinderat legen will. Da sei man zeitlich gut eingespannt – »und ich möchte es gut machen«, sagt das langjährige aktive Zelle-Mitglied. »Ich habe nicht die Illusion, dass alles super läuft. Gremienarbeit kann trocken, frustrierend und zermürbend sein. Aber ich gebe nicht so schnell auf.« Schließlich sei es »toll«, sich mit Verhandlungen und Überzeugung durchsetzen zu können. Das Gremium zu überzeugen, junge Menschen ernst zu nehmen, werde sicher nicht leicht. Mehr Sorge bereitet ihm aber die Verschiebung gerade junger Menschen, auch solcher mit Migrationshintergrund, hin zum Rechtspopulismus. »Ist das ein Ausdruck von Protest?«, fragt er sich. »Und wo führt das hin?«

Vertrauen der Menschen zurückgewinnen: Mert Akkeceli.
Vertrauen der Menschen zurückgewinnen: Mert Akkeceli. Foto: Archiv
Vertrauen der Menschen zurückgewinnen: Mert Akkeceli.
Foto: Archiv

Mert Akkeceli (30), SPD. Der Leiter der Volkshochschule (VHS) in Pfullingen lebt am Lerchenbuckel in der Reutlinger Stadtmitte, engagiert sich seit 2020 im Integrationsrat und steht dem SPD-Ortsverein vor. Sein Traum: gerade nach den Ergebnissen der jüngsten Wahlen das Vertrauen als Partei zurückgewinnen. »Das ist eine ganz besondere Aufgabe.« Viele Leute wüssten gar nicht, »was wir Gemeinderäte tun. Die Zuschauertribüne ist ja keineswegs immer gefüllt«. Deshalb würde er gern auch über Social Media oder direkten Gesprächen seine Themen an den Mann bringen. Da stünden etwa die Schulsanierungen ganz oben.Womit wir auch schon bei den Hemmnissen wären: »Wir sprudeln alle vor Ideen, aber vieles scheitert letztlich am Geld«, sagt der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten. Dennoch will er die »Prios« möglichst schnell setzen – und dann nach und nach abarbeiten. »Auch kleine Schritte sind ein Erfolg. Das müssen wir vermitteln.« Eine große Chance sieht der Mann, der Anfang Juli 31 wird, darin, »mit neuen Gesichtern, neuen Ideen, neuem Elan fraktionsübergreifend zusammenzuarbeiten«. Ein Thema für ihn ist auch das Erstarken der AfD und der Umgang mit deren Vertretern. »Ignorieren kann man sie nicht.« Besser: »Probleme, die die Bevölkerung hat, ernst nehmen. Und wenn man Dinge angehen kann, diese auch ansprechen.«

Katharina Ernst war bereits Ratsmitglied und trat bei der jüngsten Kommunalwahl als Spitzenkandidatin  der Grünen und Unabhängig
Katharina Ernst war bereits Ratsmitglied und trat bei der jüngsten Kommunalwahl als Spitzenkandidatin der Grünen und Unabhängigen an. Foto: TRINKHAUS
Katharina Ernst war bereits Ratsmitglied und trat bei der jüngsten Kommunalwahl als Spitzenkandidatin der Grünen und Unabhängigen an.
Foto: TRINKHAUS

Katharina Ernst (26), Grüne und Unabhängige. Die Betzingerin gehört vom Alter her hier weiter nach oben. Aber die Agrarwissenschaftlerin, die gerade an der Reutlinger Hochschule den Master in Umwelt-Engineering macht, blickt bereits auf fünf Jahre Erfahrungen im Gemeinderat zurück. Völlig desillusioniert ist sie nicht, sonst hätte sie sich nicht zur Wiederwahl gestellt – als grüne Spitzenkandidatin. »Wir haben in den vergangenen fünf Jahren auf einen Wechsel hingearbeitet, um mehr junge Menschen in die Kommunalpolitik zu bekommen«, erklärt die stellvertretende Fraktionssprecherin. »Das brauchen wir.« Der durch die Europawahl klargewordenen Veunsicherung junger Leute auf kommunaler Ebene entgegenzuwirken, gehe nur, »wenn mehr junge Menschen mitentscheiden«. Ihre Themen: bezahlbare, konsumfreie Aufenthaltsräume und ÖPNV. Durch die Pandemie und schwierige Haushaltslage ließ sich Manches noch nicht umsetzen. Die Quartiersbusse wieder einzurichten ist auch ihr wichtig. Die Hoffnung bleibe, wieder ans Buskonzept von 2019 anzuknüpfen. »Ich hätte gern, dass Vieles schneller geht«, sagt diese junge Stadträtin. Beschlüsse brauchen eben eine gewisse Zeit. Man müsse gerade als junger Rat wohl lernen, »dass alles ein bisschen länger dauert, als man sich das wünscht«

»Ich erhoffe mir eine gewisse Spritzigkeit«, sagt der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck (61), dass die acht Unter-30-Jährigen »frischen Drive reinbringen«. Weniger Erfahrung könne auch eine Chance sein, nämlich dass man »unbedarft und mit Unabgeklärtheit« auf die Dinge zugehe. Er hofft zudem darauf, dass sie neben der Zugehörigkeit zu ihren Listen sich auch als Einzelpersonen jeweils »ohne Scheuklappen« ein Bild machen. Und das demokratische Miteinander pflegen. Parteipolitik habe ihre Berechtigung, aber im Gemeinderat gehe es zu über 90 Prozent um Sachentscheidungen. Wie er sich fühlte, als neuer junger Gemeinderat vor 30 Jahren, weiß er noch gut: Unsicher sei er gewesen. Alles war neu. Aber bald schon ging er auf in der gemeimsamen Arbeit. »Da war es ein erhabenes Gefühl, denn das Amt strahlt eine gewisse Würde aus. Ich habe das immer als Ehre empfunden.« Denn wenn man es ernst nehme, »und das sollte man, dann kann man wirklich etwas mitgestalten«. (GEA)