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Aktuell Pandemie

Wie Lisa Federle Tübingen zum gallischen Dorf der Corona-Poltik machte

Tübingen war beim Kampf gegen das Coronavirus oft schneller als andere Städte. Das lag vor allem an Lisa Federle. Die Leitende Notärztin im Kreis Tübingen und DRK-Präsidentin blickt zurück auf den Tübinger Weg - und kritisiert die Aufarbeitung der Pandemie.

Lisa Federle, Tübinger Pandemiebeauftragte, DRK-Präsidentin, Notärztin und Schnelltest-Pionierin.  FOTO: GOLLNOW/DPA
Lisa Federle, Tübinger Pandemiebeauftragte, DRK-Präsidentin, Notärztin und Schnelltest-Pionierin. Foto: dpa
Lisa Federle, Tübinger Pandemiebeauftragte, DRK-Präsidentin, Notärztin und Schnelltest-Pionierin.
Foto: dpa

TÜBINGEN. Später haben sie Abbitte geleistet. Zugegeben, dass sie hinter dem Rücken ihrer Chefin mit den Augen gerollt und gesagt haben: »Ach, die Lisa übertreibt doch.« Rettungssanitäter und Disponenten vom Deutschen Roten Kreuz in Tübingen belächelten Anfang des Jahres 2020 DRK-Präsidentin Lisa Federle, als sie ankündigte, man müsse sich auf eine Pandemie vorbereiten. Was soll diese ominöse Lungenkrankheit in China den Menschen hier schon anhaben? Doch die Leitende Notärztin im Kreis Tübingen und DRK-Präsidentin blieb hartnäckig. Als sie las, dass ausgerechnet der chinesische Arzt starb, der zum ersten Mal die Krankheit publik gemacht hatte, wurde sie hellhörig. »Der war jung, der war Arzt. So jemand stirbt doch nicht einfach so. Da war ich mir sicher, dass das eine ganz gefährliche Sache ist«, sagt Lisa Federle heute, fünf Jahre später.

Dass Tübingen zu einer Art gallischem Dorf der Corona-Politik wurde, ist vor allem ihr und Oberbürgermeister Boris Palmer zu verdanken. Kaum waren die ersten Fälle von Covid-19 in Deutschland bekannt, wechselte Lisa Federles ohnehin nur bedingt geruhsames Leben in den Turbomodus. Sie tagte mit dem Rathauschef und dem Landrat, versuchte den Landesgesundheitsminister mit ins Boot zu holen und telefonierte mit dem Bundesgesundheitsminister. Nicht nur das »Tübinger Modell« wurde populär, auch ihre Protagonistin war plötzlich bekannt wie ein bunter Hund und hastete, wenn das gerade mal wieder möglich war, von einer Talkshow zur nächsten. Fünf Jahre danach scheint Corona weit weg, nicht aber für die Pandemiebeauftragte des Kreises, die findet, dass es noch einige offene Fragen gibt. Und manches schieflief, was man in Zukunft besser machen könnte.

»Gleich im ersten Heim habe ich auf einer Station 17 Infizierte entdeckt«

Die erste Vorsichtsmaßnahme läuft 2020 noch im Stillen ab. Der Pandemieplan des DRK aus dem Jahr 2011, den sie in Kraft setzt, verfügt eine gewisse Kontaktsperre zwischen Rettungssanitätern und Leitstelle: Wer draußen unterwegs ist, darf von nun an nicht mehr in die Leitstelle, um zu verhindern, dass der Rettungsdienst ausfällt, weil zu viele Mitarbeiter erkranken. Gleichzeitig reaktiviert Lisa Federle das Arztmobil, das Jahre zuvor für die mobile ärztliche Behandlung Geflüchteter ausgebaut wurde und stellt sich am Tübinger Bergfriedhof in den Faschingsferien in voller Schutzausrüstung auf einen Parkplatz, um Menschen auf das Coronavirus zu testen. Nächste Station: eine große Teststation auf dem Festplatz, getragen vom Landkreis und dem DRK. In der Drive-in-Station können Menschen im Auto vorfahren und sich auf das Virus testen lassen. Hinzu kommt bald – ebenfalls in Containern – eine Fieberambulanz, an die Infizierte verwiesen wurden. So wurde verhindert, dass das Virus in Krankenhäusern und Arztpraxen verbreitet wurden. Mit dabei ist dort Gisela Schneider, die Leiterin des Tübinger Difäm, dem Deutschen Institut für Ärztliche Mission. Sie bringt ihre Erfahrungen aus der Ebola-Pandemie in Afrika ein. »Buschkrankenhaus« heißt die Einrichtung im Tübinger Volksmund.

Parallel fährt Federle mit dem Arztmobil in Tübingen von Pflegeheim zu Pflegeheim. Was sie vorfindet, schockiert auch die gestandene Notärztin. »Gleich im ersten Heim habe ich auf einer Station 17 Infizierte entdeckt«, sagt sie. Zwölf davon sind später an dem Virus verstorben. Sie ordert Tests – erst einmal auf eigene Gefahr und eigene Rechnung, es geht um rund 100.000 Euro. Erleichterung, als Wochen später der Bescheid aus Berlin kommt. Um die Älteren außerhalb der Heime zu schützen, gibt es in Tübingen später zwei kostenlose FFP2-Masken für alle über 65, günstigere Taxitarife und spezielle Einkaufszeiten.

Als dann die ersten Schnelltests auf dem Markt kommen, startet sie zusammen mit Palmer den nächsten Coup: kostenlose Schnelltests für alle. Als Erstes geht sie allerdings mal wieder shoppen. »Eines Tages kam ein Lkw aus den Niederlanden und hat Kartons voller Schnelltests abgeladen.« Es waren Zehntausende. »An meinem Haus reichte der Stapel bis zu den Fenstern des zweiten Stocks«, sagt sie und lacht. Die Feuerwehren aus Reutlingen und Tübingen rücken an, um die wertvolle Fracht abzuholen und zu lagern. Die Adressliste in ihrem Handy wurde in dieser Zeit lang und länger. Das medizinische Material hat sie früher bestellt als die meisten anderen, weswegen sie nie unter Materialknappheit litt. »Ich hatte immer Masken, Schutzkleidung und Tests.«

ZUR PERSON LISA FEDERLE

Auf Umwegen den Traum vom Medizinstudium erfüllt

Die Tübinger kannten Lisa Federle schon früh. Schließlich betrieb »die Lisa« lange den »Boulanger« in bester Tübinger Altstadt-Lage. Noch heute ist die 63-Jährige in Tübingen meist per Du unterwegs. In ihrer Autobiografie »Auf krummen Wegen geradeaus« beschreibt sie, wie sie früh die Schule abbrach, mit 17 schwanger wurde, unverheiratet drei weitere Kinder bekam und sich schließlich doch noch auf Umwegen den Traum vom Medizinstudium erfüllte. 1998 hatte sie den Doktortitel in der Tasche, 2004 wurde sie in Tübingen leitende Notärztin. Dann kam die Politik: Von 2009 bis 2014 saß sie für die CDU im Tübinger Gemeinderat, seit 2014 ist sie Kreisrätin. 2015 behandelte sie Geflüchtete an den Unterkünften in einem umgebauten Wohnmobil. Für ihr Engagement und den Einsatz mit dem Arztmobil erhielt sie 2020 das Bundesverdienstkreuz. Ihr Einsatz in der Corona-Pandemie machte Lisa Federle dann zum Medienstar. »Auf krummen Wegen geradeaus« schaffte es auf Platz drei der Spiegel-Bestsellerliste. Ein zweites Buch – »Vom Glück des Zuhörens« – folgte. Federle tourt regelmäßig mit dem Kabarettisten Bernd Kohlhepp oder dem Musiker Dieter Thomas Kuhn auf Lesereise durchs Land. (sel)

Ab Ende November konnte sich auf dem Tübinger Marktplatz dann jeder im DRK-Zelt per Schnelltest kostenlos testen lassen. Spenden erwünscht. Die Idee dahinter: Wer negativ getestet ist, kann guten Gewissens Oma und Opa besuchen und hat ein geringeres Risiko, die Verwandtschaft beim Weihnachtsessen mit Corona anzustecken. Kurz vor Weihnachten lassen sich pro Tag bis 600 Menschen testen, die Warteschlange windet sich auf einem Kilometer durch die Altstadt vom Marktplatz bis fast zum Neckar. Zur Bekanntheit trägt bei, dass auch Lokalmatador Dieter Thomas Kuhn und seine Band mit im Boot sind. Singen können die Musiker in der Zeit des Lockdowns nicht, testen schon. Tübingen ist in aller Munde. Erst kommen Reporter und Fernsehteams aus Deutschland, später folgen welche aus Großbritannien, den Niederlanden und Spanien. »Auch das Wall Street Journal kam vorbei«, sagt Federle. Kurz vor Weihnachten kündigte dann der Landessozialminister nach einem Gespräch mit Federle an, dass es am 23. und 24. Dezember in mindestens 25 weiteren Städten kostenlose Schnelltestes geben werde.

Es folgt das »Tübinger Modell«: Anders als im Rest der Republik gehen in Tübingen zwischen dem 16. März und dem 24. April die Lichter an. Geöffnet haben Außengastronomie, Einzelhandel, Friseure und andere Dienstleister, Theater und Kinos. Einzige Bedingung: Ein tagesaktueller negativer Schnelltest als Eintrittskarte. Tübingen brummt und zieht so viele Besucher von außerhalb an, dass Federle und Palmer die Notbremse ziehen und nur noch Stadtbewohner testen lassen. Die Inzidenz steigt – in der Stadt allerdings weniger stark als im Kreis. Doch am 25. April macht dann die »Bundesnotbremse« auch dem Tübinger Modell den Garaus. Die Begleitstudie, die das Institut für Tropenmedizin der Tübinger Uni aus dem Boden stampfte, ergab aber später, dass die Inzidenzen in Tübingen trotz der vorsichtigen Öffnung nicht höher waren als anderswo. Lisa Federle nimmt den Abbruch des Modells noch heute übel: »Das hat mich fertig gemacht.« Sie wettert: »Der größte Fehler in der Corona-Politik ist aus meiner Sicht, dass die Politik zu wenig auf die Basis gehört hat und zu viel auf Theoretiker und Schreibtischtäter.«

Dann kommt die Corona-Impfung. Federle hat sie befürwortet, selbst eine Impfpflicht für das medizinische Personal hat sie mitgetragen, um Patienten zu schützen. Die generelle Impfpflicht, die Gesundheitsminister Karl Lauterbach durchsetzen wollte, lehnte sie ab. »Ich fand es auch nicht gut, dass Kinder geimpft werden«, sagt sie. »Schon deswegen, weil ich nicht das Gefühl hatte, dass sie schwer krank werden.« Sie ist überzeugt, dass die Ängste der Menschen vor einer Impfung nicht ernst genug genommen wurden. Die vollmundige Erklärung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, dass es keine Nebenwirkungen gebe, hält sie für unverantwortlich.

Sie hat immer darüber gesprochen, dass es auch bei Corona, wie bei allen anderen Impfungen, in seltenen Fällen unerwünschte Folgen geben kann. In ihrem Umfeld hat sie erlebt, dass Menschen kurz nach einer Impfung schwer krank werden. Sie ist vorsichtig, einen Zusammenhang herzustellen, zeitliche Nähe allein ist schließlich noch keine Ursache. Die Zahl der anerkannten Impfschäden ist zudem verschwindend gering. Noch immer gebe es rund um Corona viele Fragen. Da ist Long Covid, die unerklärliche Müdigkeit nach einer Coronainfektion. Schwäche, Atemnot – Betroffene sind häufig in ihrem Alltag sehr stark eingeschränkt, manche sind nicht mehr arbeitsfähig. Andere entwickeln ähnliche Symptome nach einer Impfung. Federle hat solche Patienten kennengelernt, findet es aber schwierig, die eine kausale Ursache zu finden. Sie wünscht sich deshalb weitere Forschung zu Long Covid und Impfschäden. Und ärgert sich, wenn Corona-Leugner versuchen, sie deshalb vor ihren Karren zu spannen: »Ich mag es nicht, wenn Menschen mich benutzen.« Und sie sagt auch: »Sobald ich etwas zu Corona sage, bekomme ich wütende Briefe.« Menschen wünschten ihr schon den Tod, sie wurde als Giftspritzenmörderin geschmäht. Zeitweise war es so schlimm, dass sie Polizeischutz brauchte.

»Der Umgang mit Corona hat an unserer Demokratie gekratzt«

Einer der größten Fehler in der Pandemie waren für sie die langen Schulschließungen. Kinder und Jugendliche seien dadurch zu den Hauptleidtragenden der Pandemie geworden. »Ich habe erlebt, dass ich keine Plätze in der Jugendpsychiatrie mehr für meine jungen Patienten gefunden habe.« Sie berichtet auch von Ängsten und Depressionen bei Studenten. Deshalb hat sie den Verein »Bewegt Euch« gegründet, um Kindern und Jugendlichen dabei zu unterstützen, die Bewegungsdefizite aufzuholen.

»BEWEGT EUCH« FÖRDERT SPORT STATT SOFA

Kinder fielen während der Corona-Pandemie durch das Raster

Während Corona waren Kinder und Jugendliche sehr stark eingeschränkt. Deshalb gründete Lisa Federle 2021 gemeinsam mit dem Schauspieler Jan Josef Liefers und dem Moderator Michael Antwerpes den gemeinnützigen Verein »Bewegt Euch«, um den Kindern und Jugendlichen mehr Sport in Vereinen zu ermöglichen. Vor allem sollen durch Spendengelder Sportangebote finanziert werden, die manche Eltern nicht bezahlen können: Judo oder Ballett beispielsweise. Besonders im Blick sind Kinder aus migrantischen Familien und Kinder mit Behinderungen. Unterstützung gab es in Tübingen beispielsweise für den Verein »Schwimmen für alle Kinder«, der dadurch zusätzlichen Schwimmunterricht anbieten kann. Zum Programm gehören aber auch Bewegungseinheiten für Gymnasiasten, eine Reitfreizeit auf Rügen und die Finanzierung einer inklusiven Sportgruppe in Sonnenbühl (Kreis Reutlingen) für ein Jahr. Gefördert wird auch das Präventionsprogramm des Vereins tima, der Jugendliche mit Essstörungen berät. In Schorndorfer Kindergärten finanziert der Verein eine wöchentliche Sportstunde für die Kita-Kinder. (sel) www.bewegteuch.com

Aber auch die Gesellschaft und ihre politischen Repräsentanten leiden unter den Spätwirkungen von Corona. »Der Umgang mit Corona hat an unserer Demokratie gekratzt«, sagt sie. Schlimm ist aus ihrer Sicht nicht, dass Fehler gemacht wurden, sondern dass hinterher nicht ausreichend kommuniziert wurde, was richtig und falsch war. Das interpretierten manche Gruppen, als würden Dinge unter den Tisch gekehrt. Dass die Republik auf eine neue Pandemie gut vorbereitet ist, glaubt Federle nicht. »Vielleicht gibt es das eine oder andere Fax nicht mehr«, sagt sie lachend. (GEA)