REUTLINGEN/SIGMARINGEN. Es sind Bilder, die wie aus einer anderen Zeit wirken: 709 Polizisten im Stadtzentrum, dazu Wasserwerfer, Polizeireiter, Drohnen. Am Abend des 18. Dezembers 2021 herrscht in Reutlingen Ausnahmezustand. Am Tag davor hatten Stadt und Landkreis eine Demonstration von Kritikern und Gegnern der Corona-Maßnahmen verboten. Man befürchtete, dass es – auch mit Blick auf vorausgegangene Demos – zu Verstößen gegen Versammlungsauflagen und den Infektionsschutz kommen könnte. Trotzdem waren hunderte Menschen auf der Straße und formierten sich auf der Lederstraße zu einem Protestzug. Die Polizei kesselte die Demonstranten dann ein und stellte ihre Personalien fest.
Eine der Eingekesselten hat nun vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen gegen die Stadt und den Landkreis geklagt. »Das willkürliche Anordnen einer solchen Allgemeinverfügung verstößt unter mehreren Gesichtspunkten gegen die grundgesetzlich garantierte Versammlungsfreiheit«, argumentiert ihr Anwalt, der Reutlinger Stadtrat Ingo Reetzke, 2022 in seinem Schreiben an das Gericht. Auch sei die »Handlungsfreiheit des Einzelnen« gestört worden, da man seine Mandantin durch die Einkesselung am Nachhausegehen gehindert habe. Reetzke musste das Mandat im Oktober 2022 niederlegen, da er als Stadtrat niemanden vertreten darf, der gegen die Stadt klagt. Dies beschloss der Gemeinderat damals einstimmig.
Die 72-jährige Reutlingerin vertrat sich daraufhin vor dem Verwaltungsgericht kurzerhand selbst. Auf der Gegenseite: zwei Vertreter der Stadt, einer vom Landkreis. Doch schnell war klar, dass über den Inhalt der Klage gar nicht detailliert verhandelt wird. Denn die Richter ließen sie gar nicht zu. Grund: Man kann nur gegen etwas klagen, von dem man selbst betroffen war oder ist. Und so ging’s ins juristische Klein-Klein. Knapp eine Stunde wurde intensiv darüber diskutiert, ob die Reutlingerin nur aus Interesse an diesem Abend im Bereich der Demo unterwegs gewesen war oder ob sie aktiv am Protest teilnehmen wollte.
»Die Kammer nimmt Ihnen Ihre Versammlungsteilnahme nicht ab«
Im Schriftverkehr mit dem Gericht hatten sie und ihr damaliger Anwalt Reetzke mehrfach betont, dass sie nur auf dem Nachhauseweg gewesen sei, nachdem sie sich "ein Bild" von den Lichterspaziergängen in der Innenstadt gemacht habe. Vor Gericht schwenkte die Frau am Donnerstag um, als ihr klar wurde, dass die Klage sonst nicht zulässig ist: "Ich war interessiert, an dieser Demo teilzunehmen." Doch das war zu spät. »Die Kammer nimmt Ihnen Ihre Versammlungsteilnahme nicht ab«, verkündete die Vorsitzende Richterin Brigitte Gulde. Wenn die Klage zugelassen worden wäre, hätte man durchaus prüfen können, ob der Eingriff in ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit durch das Demo-Verbot verhältnismäßig war, so Gulde. Die von der 72-jährigen Reutlingerin ins Feld geführte Gefahr einer Wiederholung der Lage mit möglichen Versammlungsverboten sah sie jedoch nicht.
Die Frage, ob die Allgemeinverfügung rechtmäßig war, ist auch in Juristen-Kreisen durchaus nicht unumstritten. Der Reutlinger Amtsrichter Sierk Hamann beispielsweise hatte im April 2022, bei einer Verhandlung über den Einspruch gegen einen der nach der Demo verhängten Bußgeldbescheide (der GEA berichtete), betont: Auch nach »mehrfacher Gesetzeslektüre« halte er die Allgemeinverfügung des Landratsamtes für rechtswidrig, weil sie gegen Bundesgesetz verstoßen habe. Das Landratsamt begründete das Verbot damals mit dem Infektionsschutzgesetz. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt die »epidemische Lage von nationaler Tragweite« vom Bund bereits als beendet erklärt und ein »Totalverbot« von Versammlungen aus Infektionsschutzgründen untersagt worden. So hatte auch Anwalt Reetzke in seinem Schreiben argumentiert, bevor er das Mandat abgab.
Es ist der einzige Fall aus Reutlingen, in dem ein Teilnehmer der verbotenen Demo vor dem Verwaltungsgericht gegen die Allgemeinverfügung von Stadt und Kreis geklagt hat. Die Bußgeldbescheide, die nach der Demo folgten, hielten das Reutlinger Amtsgericht monatelang auf Trab. An rund 500 Teilnehmer wurden welche verschickt, mehr als die Hälfte der Betroffenen legte daraufhin Einspruch ein. (GEA)