Um 8.40 Uhr geht alles ganz schnell. Polizisten mit Helmen und Schilden stürmen über den Wall, hinter dem sich die Klimaaktivisten von Lützerath aufgebaut haben. Es gibt einige Rangeleien, dann weichen die Frauen und Männer in den weißen Maleranzügen zurück. Minuten später ziehen lange Polizeikolonnen in den Ort ein, den die Aktivisten viele Wochen lang verteidigen wollten.
Das Einzige, was man zeitweise hört, ist die Musik eines alten Klaviers, an dem ein vermummter junger Mann spielt. Ab und zu gibt es einen Knall, dann ist irgendwo Pyrotechnik gezündet worden. Die Polizei sagt, dass die Aktivisten Molotowcocktails werfen. Im Großen und Ganzen aber bleibt es - gemessen an den vorher mitunter geäußerten Erwartungen - zunächst friedlich. Schon nach kurzer Zeit steht die Polizei überall im Dorf, das allerdings auch sehr überschaubar ist. Mittendrin flattert am Mittag noch stumm ein Banner: »Überall Polizei, nirgendwo Gerechtigkeit.«
Drei Häuser - oder mehr?
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) behauptet sogar, dass es sich gar nicht um ein Dorf handle. »Das sind drei Häuser« hat er noch am Vortag erklärt, auch wenn es natürlich ein paar mehr sind. Was er auch sagte: »Die Klima-Befürworter, also die Menschen, die da unterwegs sind, haben einen Riesenerfolg erreicht in den letzten Jahren.« Damit meint er den Kohleausstieg bis 2030. »Und jetzt geht es um ein klitzekleines Teil. Man kann sagen: Ein Kompromiss soll jetzt umgesetzt werden.«
Das sehen die Aktivisten natürlich anders. »Hier sind 280 Millionen Tonnen Kohle im Boden«, sagt Aktivistin Lakshmi. Wenn die vom Energiekonzern RWE abgebaggert würden, könne Deutschland seine Klimaziele nicht mehr erreichen.
Viele Aktivisten lassen sich widerstandslos wegführen. »Du bist nicht allein«, skandieren dann die Zurückbleibenden. Andere rufen aus ihren Baumhäusern: »Verpisst euch! Keinen Schritt weiter!« Das klingt ein bisschen wie die Drohungen des armen Monty-Python-Ritters, dem schon Arme und Beine abgesäbelt worden sind.
Entspannte Atmosphäre
Schon im Laufe des Vormittags entspannt sich die Atmosphäre spürbar. Polizisten plaudern miteinander - auch mit den Aktivisten. Als einer fast durch ein altes Scheunendach bricht, erkundigt sich ein Beamter besorgt: »Geht's dir gut?«
Begonnen hatte es für alle Beteiligten gleichwohl weniger entspannt und angenehm. Am Morgen ist es stockdunkel und es regnet in Strömen, als die Polizei gegen das zu Erkelenz gehörende Protestdorf vorrückt. Die Atmosphäre ist bedrohlich, weil niemand wirklich weiß, was gleich passieren wird. Scheinwerfer leuchten auf, Polizeiwagen und Bagger fahren auf. Es ist der Moment, auf den sich die Aktivisten viele Monate vorbereitet haben. Der Tag X.
Alles hier wirkt unwirklich. Da ist der Tagebau, in der Nacht ein riesiges schwarzes Loch mit beleuchteten Riesen-Baggern, die Unkundige für abstrakte Stahl-Weihnachtsbäume halten könnten. Am Horizont flackern rote Punkte auf, Windräder. Dazu schlagen Aktivisten monoton auf Trommeln - auch um irgendwie in Bewegung zu kommen. »Wir sind hier nicht zum Spaß«, sagte einer von ihnen. »Das ist aber kein Verbot, sich die Zeit hier erträglich zu machen.«
Gespenstischer Anblick
An der Tagebaukante reihen sich ein- und zweibeinige Holzgestelle auf, auf denen sich Menschen festgebunden haben - im fahlen Licht einiger Lampen ein gespenstischer Anblick. Die Aktivisten wollen die Räumung damit so schwer wie möglich machen. »Es wär vielleicht geil, noch was zu essen hier hoch zu kriegen«, ruft einer von ihnen. »Da müssten noch ein paar vegane Würstchen bei mir im Zelt sein.«
Es wird dann ernst - aber auch nicht immer bierernst. »Was macht ihr hier?«, fragt ein Reporter eine Gruppe von Aktivisten, die sich unter einem sogenannten Monopod im Regen zusammengekauert haben. »Ist das eine besondere Technik?« »Ja«, erhält er zur Antwort. »Das ist die Schildkrötenformation.«
Auch die Journalisten sind in Kompaniestärke angerückt, und dies nicht nur aus Deutschland. »Het is koud, het is nat«, schildert ein Live-Reporter des niederländischen Fernsehens - es ist kalt, es ist nass. Niemand würde widersprechen.
Als der Morgen dämmert, schrillt ein Alarm durchs Dorf. »Wir glauben, dass es gleich losgeht, weil hier viele Polizeiwagen langgefahren sind«, sagt eine Aktivistensprecherin. Die Lützerath-Bewohner haben auch noch eine andere Methode, sich gegenseitig zu alarmieren: Einer gibt eine Nachricht vor, und die Umstehenden wiederholen sie im Chor - da ist gar kein Lautsprecher nötig.
In Wärmedecken gehüllt
Die Polizisten sind mittlerweile bis an den Erdwall kurz vor dem Ortseingang herangerückt und schauen den Aktivisten direkt in die Augen. Gegen die Kälte haben sich die Lützerath-Verteidiger teils in goldfarbene Warmhaltedecken eingewickelt, was sie in Kombination mit ihren weißen Ganzkörperanzügen und Gesichtsmasken wie Alien-Darsteller aussehen lässt. Ein Aktivist appelliert an sein Gegenüber: »Dieser Einsatz kann ja wohl nicht der Grund sein, dass Sie Polizist geworden sind!«
Geradezu feierlich wird es, als die christliche Fraktion unter den Aktivisten inmitten von stimmungsvoll flackernden Kerzen ein Kirchenlied anstimmt: »Von guten Mächten wunderbar geborgen...«
Die schmiedeeisernen Gitter in ihrem Rücken sind Reste einer alten Kapelle und erinnern daran, dass Lützerath seit dem frühen Mittelalter besiedelt ist. Das sind fast 1000 Jahre Geschichte. Doch seit diesem Mittwoch werden die wenigsten noch daran zweifeln, dass seine Tage gezählt sind.
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