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»Zeitenwende«: Wehrbeauftragte fordert Ende der Behäbigkeit

100 Milliarden Euro sollen im Zuge der von Bundeskanzler Scholz ausgerufenen »Zeitenwende« der Bundeswehr aus einem Sondertopf zukommen. Doch noch kam nichts an. Ist das Beschaffungswesen »zu behäbig«?

Truppenbesuch
Die Wehrbeauftragte Eva Högl bei einem Truppenbesuch in Schortens im Juni vergangenen Jahres. Foto: Sina Schuldt
Die Wehrbeauftragte Eva Högl bei einem Truppenbesuch in Schortens im Juni vergangenen Jahres.
Foto: Sina Schuldt

Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, hat den schleppenden Start der Zeitenwende hin zur vollständigen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr deutlich kritisiert. »Die Bundeswehr hat von allem zu wenig. Und sie hat seit dem 24. Februar 2022 noch weniger«, sagte die SPD-Politikerin in Berlin bei der Vorstellung ihres Jahresberichts.

Sie verwies auf das vom Bundestag beschlossene Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, mit dem die Bundeswehr einsatzbereit gemacht werden soll. »Ich muss leider feststellen, dass im Jahr 2022 von diesem Sondervermögen noch kein Euro und kein Cent ausgegeben wurde«, sagte Högl.

Die Wehrbeauftragte hilft nach Artikel 45b des Grundgesetzes dem Bundestag bei der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte. Sie gilt aber auch als Anwältin der Soldaten, die sich jederzeit an sie wenden können.

In ihrem Jahresbericht kritisierte sie, dass das Beschaffungswesen »zu behäbig« sei. Sie nennt zahlreiche Beispiele: Seit 2016 werde an einem Biologie-Labor für eine ABC-Abwehr-Schule geplant. Obwohl es um handelsübliche und marktverfügbare Geräte gehe, seien bisher nur 32 von 200 Einzelgeräten beschafft. An anderer Stelle reiche die Beschaffung eines Fliegerhelms mit ballistischem Schutz schon bis 2013 zurück - obwohl marktverfügbar und im US-Militär im Einsatz. Im dritten Quartal dieses Jahres solle die Ausrüstung nun bereitgestellt werden.

Högl: 100 Milliarden Euro reichen nicht aus

Högl plädierte aber trotz lange beklagter Probleme für mehr Geld. »Die 100 Milliarden Euro allein werden nicht ausreichen, sämtliche Fehlbestände auszugleichen, dafür bedürfte es nach Einschätzung militärischer Expertinnen und Experten einer Summe von insgesamt 300 Milliarden Euro«, schrieb Högl.

Auf Nachfrage bekräftigte sie, dass sie auch eine deutliche Steigerung des regulären Verteidigungsetats (»Einzelplan 14«) befürworte, wie von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gefordert. »Der Minister ist jetzt mit der Forderung 10 Milliarden Euro reingegangen. Ich drücke die Daumen, dass er sich durchsetzt«, sagte Högl. »Das Geld ist gut investiertes Geld in Frieden, Freiheit, Sicherheit. Die Truppe braucht es dringend.«

Die Wehrbeauftragte blickte mit Sorge auf die Personalsituation in der Bundeswehr und zweifelte daran, dass bis zum Jahr 2031 die Zielstärke von 203.000 Soldatinnen und Soldaten erreicht werden kann. Die Personalstärke habe Ende vergangenen Jahres 183.051 betragen, ein leichtes Minus zu 2021 (183.695 Soldaten). Negativ festzustellen sei, dass die Zahl der Bewerbungen um 11 Prozent auf 43.900 zurückgegangen sei. »Wir brauchen einen größeren Pool an Bewerbungen«, sagte Högl. Es seien 18 692 Stellen oder 15,8 Prozent der Stellen unbesetzt. Die Bundeswehr werde personell immer älter.

Sexuelle Übergriffe haben zugenommen

Högl kritisierte, dass das Potenzial und der Nachholbedarf bei der Einstellung von Frauen im Militär nicht ausgeschöpft werde. »Selbst inklusive des Sanitätsdienstes liegt der Anteil der Soldatinnen erst bei 13,21 Prozent«, kritisierte sie. Übergriffe gegen die sexuelle Selbstbestimmung hätten nach einem deutlichen Rückgang während der Corona-Zeit wieder zugenommen. Es habe dazu 34 Eingaben und 357 meldepflichtige Ereignisse gegeben. »Da ist wirklich Handlungsbedarf. Das ist auch entscheidend dafür, ob Frauen sich entscheiden, zur Bundeswehr zu gehen«, sagte Högl.

Einen Rückgang der Zahlen verzeichnet ihr Bericht beim Thema Rechtsextremismus, wo es 319 Fälle und 203 meldepflichtige Ereignisse gab. Högl sagte dazu: Wenn der Rückgang bedeute, dass das Problem weniger groß sei, »dann freuen wir uns darüber. Aber das muss, wie gesagt, noch weiter verfolgt werden.«

Ein Dauerthema: die Infrastruktur. Kasernen sind landauf, landab »in einem erbärmlichen Zustand«. Högl sagte: »Es fehlt an Unterkünften, funktionierenden Toiletten, sauberen Duschen, Spinde, Hallen, Sportanlagen, Truppenküchen, Betreuungseinrichtungen, Munitionslagern und Waffenkammer und nicht zuletzt auch WLAN.« Der Investitionsbedarf werde auf mittlerweile 50 Milliarden Euro beziffert. Die Bauverwaltungen schafften es pro Jahr, Projekte im Volumen von einer Milliarde Euro umzusetzen. Die Wehrbeauftragte: »Das heißt, wir brauchen ein halbes Jahrhundert, um den Investitionsbedarf auch entsprechend umzusetzen.«

© dpa-infocom, dpa:230314-99-948510/5