ERFURT. Es ist eine historische Zäsur: Erstmals in Deutschland hat die AfD einem Ministerpräsidenten ins Amt verholfen. Der FDP-Politiker Thomas Kemmerich setzte sich in Thüringen völlig überraschend gegen den bisherigen Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke) durch.
Dabei erhielt er sowohl Stimmen der CDU als auch der AfD von Landesparteichef Björn Höcke. Höcke ist Gründer des rechtsnationalen »Flügels« seiner Partei, der vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall im Bereich Rechtsextremismus eingestuft wird. SPD und Linke warfen Union und FDP auch im Bund sofort einen unverzeihlichen Dammbruch vor.
»Dass die Liberalen den Strohmann für den Griff der Rechtsextremisten zur Macht geben, ist ein Skandal erster Güte«, schrieb SPD-Chef Norbert Walter-Borjans auf Twitter. »Da kann sich niemand in den Berliner Parteizentralen wegschleichen.«
Linken-Chef Bernd Riexinger sprach von einem »Tabubruch«, der weitreichende Folgen haben werde. Die Thüringer Linke-Landeschefin Susanne Hennig-Wellsow warf Kemmerich einen Blumenstrauß vor die Füße. Juso-Chef und SPD-Vize Kevin Kühnert sagte: »Die Masken sind gefallen.«
Die CDU dagegen wies jede Verantwortung von sich: Seine Fraktion habe sich in den ersten beiden Wahlgängen enthalten und im dritten den »Kandidaten der Mitte« gewählt, sagte der Thüringer Parteichef Mike Mohring. »Fakt ist: Wir sind nicht verantwortlich für die Kandidaturen anderer Parteien, wir sind auch nicht verantwortlich für das Wahlverhalten anderer Parteien.«
Die Entscheidung zwischen Kemmerich und Ramelow fiel denkbar knapp aus. Auf den bisherigen Regierungschef entfielen 44 Stimmen, Kemmerich erhielt 45 Stimmen. Der parteilose AfD-Kandidat Christoph Kindervater bekam im dritten Wahlgang keine Stimme - auch nicht aus der AfD-Fraktion. Es gab eine Enthaltung.
FDP-Vize Wolfgang Kubicki wertete das Ergebnis als großen Erfolg für Kemmerich. »Ein Kandidat der demokratischen Mitte hat gesiegt«, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Offensichtlich sei die Aussicht auf fünf weitere Jahre Ramelow für die Mehrheit der Abgeordneten im Thüringer Landtag nicht verlockend gewesen.
Die FDP-Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann dagegen kritisierte das Vorgehen ihres Parteifreundes Kemmerich scharf: »Ich verstehe seinen Wunsch, Ministerpräsident zu werden. Sich aber von jemandem wie (Björn) Höcke (AfD) wählen zu lassen, ist unter Demokraten inakzeptabel und unerträglich«, schrieb sie auf Twitter.
Die AfD dagegen will die Wahl auch als bundesweiten Fingerzeig verstanden wissen. AfD-Landeschef Höcke sprach von einem »Neustart der Thüringer Politik«. Er hoffe, dass davon aber auch ein Signal ausgehe, das bundesweit beachtet werde.
Kemmerich ist erst der zweite Ministerpräsident der FDP in der Geschichte der Bundesrepublik. Der liberale Politiker Reinhold Maier war von 1945 bis 1952 Ministerpräsident von Württemberg-Baden und dann von April 1952 bis September 1953 Regierungschef des neuen Bundeslandes Baden-Württemberg.
Jetzt gehe es darum, eine vernünftige Politik für Thüringen zu machen, betonte Kubicki. Er rief CDU, SPD, Linke und Grüne zur Zusammenarbeit auf: »Daran sollten alle demokratischen Kräfte des Landtages mitwirken.« Möglich wäre, dass die FDP nun auf CDU und SPD zugeht und ihnen die Bildung einer Minderheitsregierung vorschlägt.
Weil Christdemokraten und Liberale nach der Wahl im Herbst eine Zusammenarbeit mit der AfD von Höcke kategorisch ausgeschlossen hatten, blieb nur eine Minderheitsregierung. Mohring betonte, Kemmerich müsse nun erneut klarmachen, dass es keine Koalition mit der AfD und eine klare Abgrenzung nach rechts gebe. Dann sei auch die CDU offen für neue Gespräche.
Die Thüringer FDP hatte den Einzug ins Parlament selbst nur denkbar knapp geschafft und die Fünf-Prozent-Hürde um nur 73 Stimmen übersprungen. Ramelows angepeiltes Bündnis von Linke, SPD und Grünen verfügte nach dem Urnengang nur noch über 42 von 90 Mandaten im Landtag.
Ramelow hatte deshalb eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung unter seiner Führung angepeilt. Am Dienstag hatten die bisherigen Koalitionspartner bereits einen neuen Regierungsvertrag unterschrieben.
Thüringer Landesverfassung, Art. 70 zur MP-Wahl
Reaktionen auf Ministerpräsidentenwahl in Thüringen
Das sind die Regeln zur Wahl:
- Im ersten Wahldurchgang ist gewählt, wer die absolute Mehrheit im Parlament erreicht. Im aktuellen Thüringer Landtag sind dafür 46 Stimmen nötig.
- Schafft im ersten Wahlgang keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit, gibt es eine zweite Runde. Auch hier braucht es wieder die absolute Mehrheit, also 46 Stimmen.
- Scheitern die Kandidaten zum zweiten Mal, heißt es in der Landesverfassung: »Kommt die Wahl auch im zweiten Wahlgang nicht zustande, so ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält.«
- Im zweiten und dritten Wahlgang sind nach Angaben des Thüringer Landtags auch neue Kandidaten möglich. Denkbar sei aber auch, dass Fraktionen ihre Kandidaten wieder zurückziehen.
Streit über die Auslegung der Verfassung gibt es wegen des dritten Wahlgangs. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob ein einzelner Kandidat auch mit mehr Nein- als Ja-Stimmen gewählt wäre. Zu dem Thema wurden zwei juristische Gutachten erstellt, die sich gegenüber stehen. Klärung könnte nach Ansicht von Experten nur der Gang zum Verfassungsgerichtshof bringen - nach einer solchen Wahl.