Von der Veranda ihres Hauses blickt Hoang Thi Ly auf Reisfelder, die friedlich in der Sonne glänzen. Sie zeigt in Richtung der grünen Wiesen des Truc Lam Village in Zentralvietnam. Der Anblick ist so idyllisch, dass man sich kaum vorstellen kann, was hier einst passiert ist.
»Als Kind bin ich in einem Minenfeld aufgewachsen«, sagte die 53-Jährige der Deutschen Presse-Agentur. »Es gab hier einen Stützpunkt der US-Armee, überall waren Sprengsätze.«
Ly war erst fünf, als der Vietnamkrieg 1975 nach 20 Jahren endete. 1954 war das Land von der Kolonialmacht Frankreich unabhängig geworden. Kurz danach spaltete sich die Nation in Nordvietnam und Südvietnam. Es kam zum Krieg zwischen beiden Landesteilen. Von 1965 an unterstützten die USA Südvietnam militärisch.
Mittlerweile ist es mehr als 50 Jahre her, dass der letzte US-Soldat das südostasiatische Land am 29. März 1973 im Zuge eines in Paris geschlossenen Waffenstillstandsabkommens verließ. Und doch werden jedes Jahr immer noch Zehntausende Blindgänger gefunden, die der Konflikt nur wenige Zentimeter unter der Erde hinterlassen hat.
Ein Drittel der Munition blieb intakt
Denn die USA unternahmen mehr als eine Million Bombenangriffe und warfen fünf Millionen Tonnen Kampfmittel auf das Land am Mekong, insbesondere Streumunition, die überall verteilt wurde. Etwa ein Drittel davon explodierte beim Aufprall nicht und blieb intakt.
Gut zehn Jahre nach Kriegsende begann Ly als Farmerin zu arbeiten, aber bis heute hat sie Angst, bei der Bewirtschaftung der Felder auf eine Mine oder UXOs (nicht explodierte Kampfmittel wie Bomben, Granaten oder Munition) zu treten. Viele Menschen und Tiere in der Gegend kamen schon durch solche Blindgänger ums Leben.
Quang Tri, wo sich die entmilitarisierte Zone zwischen Nord und Süd befand, ist bis heute die am stärksten kontaminierte Provinz. Seit Kriegsende gab es Berichten zufolge allein hier fast 3500 Todesopfer und 5000 Verletzte. Das letzte tödliche Unglück ereignete sich im vergangenen Jahr, als ein Bauer auf einem Feld eine Bombe aufhob und diese detonierte. Landesweit seien in 50 Jahren sogar mehr als 100.000 Tote und Verletzte durch Blindgänger gemeldet worden, sagt Sarah Goring, Landesdirektorin der Mines Advisory Group (MAG).
Die in Großbritannien ansässige Nichtregierungsorganisation, die weltweit in ehemaligen und aktuellen Kriegs- und Krisengebieten arbeitet, ist seit 1999 in Vietnam tätig. 2001 wurde Ly von der NGO eine Stelle als Minenräumerin angeboten. Seither ist sie eine von mittlerweile 735 Beschäftigten, die Vietnam von Minen und Munitionsrückständen befreien.
Suche läuft Zentimeter für Zentimeter
Lys Dorf, das zum Schutz des Stützpunktes der US Army besonders stark vermint wurde, war der erste Ort in der Provinz, in dem alle Minen entfernt wurden. Aber die Arbeit bringt noch weitere Vorteile mit sich: »Seit ich zu MAG kam, habe ich ein besseres Einkommen«, sagt Ly. »Mein Lebensstandard verbesserte sich, und meine Kinder konnten zur Schule gehen.«
Hatte sie keine Angst vor den Sprengsätzen? »Doch, die hatte ich, vor allem, als ich mit der Arbeit begann«, erzählt sie. »Aber ich wurde richtig geschult und fühle mich mittlerweile sicher.« Auch ihre Familie sei einverstanden, dass sie diesem gefährlichen Job nachgehe.
Jeden Tag durchsuchen MAG-Teams das Land Zentimeter um Zentimeter mit Hilfe von Metalldetektoren. Es gilt, Vietnam wieder sicher für Landwirtschaft und Bebauung zu machen. Eine Herkulesaufgabe: 2022 zerstörte MAG 14 615 Sprengkörper und räumte damit gerade zehn Quadratkilometer Land. Wenn Sprengkörper gefunden werden, machen MAG-Mitarbeiter diese entweder gleich vor Ort unschädlich oder bringen sie zur sicheren Zerstörung auf ein Abbruchgelände.
Für Einheimische gibt es derweil eine Hotline, bei der mögliche Sichtungen von Blindgängern gemeldet werden können. Dann wird MAG-Landesdirektorin Goring meist mit ihrem Team zu einer genaueren Untersuchung gerufen.
Teil der Arbeit: Die Bevölkerung sensibilisieren
So entdeckte Pham Van Dong (49) eine Rakete in seinem Garten in der ländlichen Provinz Quang Tri, als er dort neue Erde aufschütten wollte. MAG-Mitarbeiter rückten gleich zur Inspektion an, nachdem er den Fund gemeldet hatte. »Ich habe schon viele UXOs gefunden«, erzählt Dong. »Jetzt wissen wir, wie man sie meldet, aber vorher wussten wir nicht, was wir tun sollten.«
Die Sensibilisierung der Bevölkerung für die Hotline ist ein wichtiger Teil der Arbeit von MAG. Die Organisation schaltet Anzeigen in sozialen Medien, in denen sie Dorfbewohner zu Veranstaltungen einlädt und über die Arbeit der Organisation informiert.
Obwohl die tödlichen Relikte des Vietnamkrieges bis heute Opfer fordern, hat das Volk durch die Räumarbeit auch eine Möglichkeit gefunden, das Trauma zu bewältigen. Thai Van Ninh, der ebenfalls für MAG Minen aufspürt, hat seinen damals zwölfjährigen Bruder durch einen Blindgänger verloren. Da war er selbst gerade sechs Jahre alt. »Er war auf dem Heimweg von der Schule. Er hob dabei unwissentlich einen Sprengkörper auf, der explodierte, als er ihn werfen wollte.«
Der Verlust sei sehr schmerzhaft gewesen. »Deshalb war mir die Gefahr von Sprengsätzen schon immer bewusst«, sagt Ninh. »Das hat mich motiviert, bei MAG einzusteigen. Die Arbeit hier hilft mir zu heilen - und gleichzeitig anderen zu helfen.«
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