In der Luft liegt der Geruch von verbranntem Gummi. Soldaten in voller Montur laufen an einer zartgelben Hauswand vorbei, die Gewehre im Anschlag, immer wieder fallen Schüsse. Jemand schwenkt eine rote Flagge aus einem mit Sandsäcken abgepolsterten Fenster. Um die Ecke knallt es laut, Rauchschwaden breiten sich aus und vernebeln die Sicht. Zwischen einem Knall und dem nächsten durchbrechen nur abgehackte Kommandos die angespannte Stille - bis alle die Waffen sinken lassen. Zeit für die Nachbesprechung.
Was hier auf einem Militärübungsplatz im Südosten Englands qualmt, sind Rauchgranaten, was abgefeuert wird, keine scharfe Munition. Zwischen den Häusern liegen halbzerquetschte Autos, Barrikaden aus Autoreifen und Euro-Paletten. Ein Kommandeur der britischen Armee hat sich aktuelle Videos von ukrainischen Straßen angeschaut und versucht, die Siedlung zu Übungszwecken so ähnlich wie möglich zu gestalten.
Rund 600 Freiwillige aus der Ukraine, darunter viele Männer, aber auch einige Frauen, lernen derzeit in der Grafschaft Kent, wie man mit einer AK M47 - einem in der Ukraine gängigen Gewehr - schießt und dabei seine Ziele trifft. Sie lernen, wie man Wohnhäuser von feindlichen Angreifern befreit und - im schlimmsten Fall - Leben rettet. Der Fokus liegt auf Gefechten in Städten sowie Grabenkämpfen - »bedrohungsspezifisch« heißt das in der Militärsprache.
Viele der Rekruten haben bis vor kurzem noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. Die britischen Ausbilder, die selbst teils in Afghanistan oder dem Irak gedient haben, schwärmen von der unermüdlichen Motivation der Gäste. »Es macht wirklich Spaß, ihnen etwas beizubringen«, sagt der Offizier Craig Hutton von den Scots Guards. »Allerdings mit dem Vorbehalt, dass es wirklich ernst ist.« Auch anderen hochrangigen Militärs ist die Ehrfurcht anzumerken, wenn es darum geht, dass die jungen Ukrainerinnen und Ukrainer um die Existenz des Landes kämpfen müssen, in dem sie geboren sind.
Ausbildung für bis zu 10.000 Rekruten
Nur wenige Wochen bleiben ihnen auf dem sicheren Trainingsgelände, wie lang genau will das Militär nicht preisgeben. Danach geht es zurück in die Ukraine - womöglich an die Front. Doch welche Rolle sie in dem Krieg spielen werden, der nun schon fast ein halbes Jahr Städte und Dörfer in ihrem Heimatland in Schutt und Asche legt, wissen sie oft noch nicht. »Alles ändert sich jeden Tag«, sagt die 34-jährige Ukrainerin Snejana, die früher einmal in Kiew Hochschullehrerin für Literatur war, mit einem bitteren Unterton.
Auch das Leben von Serhii aus der ukrainischen Stadt Tscherkassy hat in den vergangenen Wochen eine drastische Wendung genommen. Vor weniger als einem Monat habe er sich entschieden, für sein Land zu den Waffen zu greifen. »Meine Familie war ziemlich traurig«, erzählt der 25-Jährige, der davor noch in einer IT-Firma als Business-Analyst gearbeitet hat. »Aber sie haben es verstanden. Sie haben gesagt: Versuch zu überleben.«
Insgesamt will die britische Armee bis zu 10.000 Rekruten ohne oder mit nur geringer militärischer Erfahrung an vier verschiedenen Standorten ausbilden. Internationale Partner - darunter Kanada und Norwegen - wollen sich an dem Programm beteiligen. Deutschland ist bislang nicht dabei, hat aber auch einige Ausbildungsprogramme, etwa an den Waffen, die die Bundesregierung nach Kiew schickt.
Der scheidende Premier Boris Johnson hat die tatkräftige und sichtbare Unterstützung der Ukraine von Beginn der russischen Invasion Ende Februar an ganz weit nach oben auf seine Prioritätenliste gesetzt. Wann immer zuhause die Skandale Wellen schlugen, rief Johnson den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an oder brachte neue Waffenpakete auf den Weg. Im internationalen Vergleich gehört Großbritannien zu den großzügigsten und zuverlässigsten Waffenlieferanten. Bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine, die vor ihrer Ankunft ein Visum beantragen müssen, sieht die Bilanz deutlich schlechter aus.
Sie habe eine »große Dankbarkeit dafür, wie Großbritannien uns unterstützt«, sagt Snejana, die schon in der Ukraine seit 2015 in der Armee aktiv ist und militärischen Nachwuchs ausbildet. Sie ist interessiert an Techniken und Taktiken, die sie von ihren britischen Kollegen lernen kann. Sollten andere europäische Länder mehr tun? »Das ist eine gute Frage«, meint Snejana und lächelt. Beantworten will sie die Frage jedoch nicht.
Neuzugang Serhii hat es noch vor einem halben Jahr für unvorstellbar gehalten, dass Russland in die Ukraine einmarschiert. Niemand habe daran geglaubt, meint er. Ob er Angst vor der Rückkehr in seine umkämpfte Heimat hat? Serhiis Augen, die über der olivgrünen Schutzmaske hervorlugen, blicken traurig und unentschlossen. »Ich fühle mich bereit«, sagt er. »Wie jeder andere versuche ich, nicht zu sterben.«
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