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Wenn Russland auch Deutschland den Gashahn zudreht

Noch sei die Versorgung gesichert, sagen Experten und Politiker. Die deutsche Industrie stellt sich nach dem russischen Lieferstopp gegenüber Polen und Bulgarien aber bereits auf Engpässe ein.

Nord Stream 1
Rohrsysteme und Absperrvorrichtungen in der Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1. Foto: Stefan Sauer
Rohrsysteme und Absperrvorrichtungen in der Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1.
Foto: Stefan Sauer

In den ersten Ländern Osteuropas werden die Drohungen aus dem Kreml Realität. Dass die Folgen für Industrie, Verbraucher und wohl auch viele Arbeitnehmer erheblich wären, sollte Russland die Gaslieferungen nach Deutschland bald ebenso einstellen, steht außer Frage.

Wie groß das Ausmaß ausfiele, unterscheidet sich jedoch je nach Branche und Nutzung des Rohstoffs.

1. Notfallpläne gegen Moskaus Gas-Macht: Bisher hält das Bundeswirtschaftsministerium die deutsche Versorgungssicherheit noch für gewährleistet. Die Regierung rief zum Energiesparen auf - in einigen Branchen wäre ein plötzlicher Erdgasausfall aber heikel.

Die Industrie bekäme laut aktuellen Notfallplänen als erstes weniger der vorhandenen Speichermengen zugeteilt. Der Chefaufseher des Energiekonzerns Eon, Karl-Ludwig Kley, befürchtet drastische Konsequenzen für Wirtschaftsleistung und Arbeitsplätze, falls akuter Mangel eintritt. Daher müsse die Politik »darüber nachdenken, ob sie die Reihenfolge nicht umdreht und erst bei Privaten abschaltet«, sagte der Ex-Chef des Chemiekonzerns Merck dem »Manager-Magazin«.

Wie groß die volkswirtschaftlichen Kosten wären, ist umstritten. Der Chef der Deutschen Bank, Christian Sewing, erwartet im schlimmsten Fall »eine Rezession mit langfristigen Folgen«. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hält ein Stopp-Szenario bei Erdgas und - wie bereits beschlossen - bei Kohle zumindest mit Blick auf die deutsche Stromversorgung für verkraftbar - jedenfalls ab 2023. Das Analysehaus Scope sieht für Deutschland größere Chancen als für andere Staaten.

2. Die besonders verwundbare Chemie: Man muss unterscheiden zwischen Erdgas als Energiequelle und als Rohstoff zur Weiterverarbeitung in Produkten. Beides ist vor allem für Chemieunternehmen unerlässlich. Die Gewerkschaft IG BCE glaubt, dass von jetzt auf gleich fehlendes Gas die Industrie »massiv gefährden« würde. Ihr Vorsitzender Michael Vassiliadis warnte vor Jobverlust und Kurzarbeit für Hunderttausende.

Die Chemie- und Pharmabranche ist laut Branchenverband VCI mit einem Anteil von 15 Prozent größter deutscher Gasverbraucher, knapp ein Drittel des Industrieverbrauchs entfällt auf sie. »Ein kurzfristiger und unbefristeter Lieferstopp hätte spätestens im Herbst massive Auswirkungen nicht nur auf die chemisch-pharmazeutische Industrie, sondern über ihre Funktion in Wertschöpfungsketten auf das gesamte Produktionsnetzwerk«, so Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup.

Längst laufen Vorbereitungen für den Ernstfall, wie sich Anlagen mit weniger Gas betreiben ließen. Die Folgen großer Ausfälle beschrieb Martin Brudermüller, Chef des weltgrößten Chemiekonzerns BASF: »Bei BASF müssten wir an unserem größten Standort in Ludwigshafen die Produktion zurückfahren oder ganz herunterfahren, wenn die Versorgung deutlich und dauerhaft unter 50 Prozent unseres maximalen Erdgasbedarfs sinkt«, sagte er der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung.«

3. Andere gefährdete Industriezweige: Auch energiehungrige Abnehmer wie Stahlwerke, Kupferhütten, Verzinkungsbetriebe und generell die metallverarbeitende Industrie würden hart getroffen. Hier geht es ebenso um Produktion von Strom und Wärme aus Gas, etwa zur Beheizung von Öfen. Die nötigen Temperaturen dürfen oft ein Mindestmaß nicht unterschreiten - sonst sind teils irreparable Schäden möglich.

Die IG BCE weist zudem auf die schwierige Lage der Glasindustrie hin: »Die Unternehmen könnten das Erdgas kurzfristig nicht ersetzen und deshalb nicht mehr produzieren.« Außerdem ließen sich erkaltete Schmelzwannen nicht einfach weiternutzen. »Wirtschaftlich wäre es für die Betriebe ein Totalschaden.« Andere Bereiche wie die Keramik- und die Papierindustrie sähen sich ebenso mit Problemen konfrontiert.

4. Ausfälle oder Einschränkungen bei vielen Produkten: Erdgas steckt in zahllosen Konsum- und Investitionsgütern als Energie-Input oder als Grundressource. Nach Angaben des VCI benötigen über 90 Prozent aller Industrieerzeugnisse in Chemieprodukte - von Autos über Computerchips und Dämmmaterialien bis zu Fernsehern, Medikamenten sowie Wasch- und Reinigungsmitteln. Gas als Rohstoff kommt dabei vor allem in reinen Chemiewaren, Kunststoffen und Arzneien vor, aber auch in Landwirtschaftsprodukten wie Dünge- oder Pflanzenschutzmitteln.

Bei der Versorgungssicherheit geht es in erster Linie um Gemische, die Methan enthalten. Es ist als einfachster Kohlenwasserstoff der Hauptbestandteil klassischen Erdgases. Auch Ethan wird zum Heizen und Verbrennen verwendet, während man Gassorten wie Propan oder Butan zum Beispiel zum Antrieb von Gasmotoren und Gasherden nutzt. All diesen Stoffen ist gemein, dass sie außerdem zur Synthese sehr vieler wichtiger chemischer Verbindungen gebraucht werden.

5. Der aktuelle Versorgungsstand - und Folgen für Verbraucher: Die Datenbank des Netzwerks Gas Infrastructure Europe gab den letzten Gesamtwert zum Speicherstand in Deutschland für Dienstag (26. April) mit knapp 34 Prozent an. Der Trend geht zwar wieder leicht aufwärts, doch auch der Verbrauch sinkt jetzt. »Das Ende des Winters mit milderen Temperaturen könnte die Nachfrage nach europäischem Gas verringern und die Situation vorübergehend etwas entspannen«, schätzte kürzlich das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut (HWWI).

Die Betonung liegt auf »vorübergehend«. Für die bisher zum russischen Staatskonzern Gazprom gehörenden Anlagen werden weit geringere Stände als im Bundesschnitt gemeldet, der größte deutsche Speicher in Rehden bleibt mit 0,5 Prozent Auslastung fast leer. Inzwischen wird die deutsche Gazprom-Tochter von der Bundesnetzagentur kontrolliert.

Zur Jahresmitte soll die EEG-Umlage wegfallen, mit der Verbraucher die Energiewende mitfinanzieren. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft meint, dies allein könne »die extrem gestiegenen Beschaffungskosten nicht ausgleichen. Um die Belastung nachhaltig zu dämpfen, sind weitere Maßnahmen notwendig.« So fordert die Branchenorganisation eine Senkung der Stromsteuer und Verringerung der Mehrwertsteuer auf Strom und Gas von 19 auf 7 Prozent.

6. Die Reihenfolge bei akutem Gasmangel: Politisch ist noch nicht endgültig geklärt, welche Unternehmen im Ernstfall zuerst auf Gas verzichten müssten. Die Bundesnetzagentur würde das knapp gewordene Gas verteilen. Haushalte und soziale Einrichtungen sind gesetzlich besonders geschützt und möglichst bis zuletzt mit Gas zu versorgen. »Im Fall einer Knappheit erwarten wir, dass wir die notwendigen Ressourcen erhalten, um Produktion und Services aufrechtzuerhalten«, erklärte der Pharma- und Chemiekonzern Merck. Ähnlich äußerte sich der Gesundheitskonzern Fresenius. »Unsere Kliniken etwa gehören zur kritischen Infrastruktur. Wir gehen davon aus, dass dies auch für unsere Produktionsstätten gilt.«

7. Ersatz durch andere Energieträger? Methan lässt sich herstellen, indem Wasserstoff mit CO2 reagiert. Zur Nutzung im großen Maßstab bräuchte man aber auch große Mengen elementaren Wasserstoffs. Dieser muss stromintensiv aus Wasser gewonnen werden. Der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft läuft erst an. Während Öl teils aus anderen Regionen beziehbar sei, gebe es bei Gas keine Kurzfrist-Alternative, betont der VCI. Viele Länder versuchen nun, Pipeline-Gas durch verflüssigtes Gas (LNG) per Schiff zu ersetzen. In Wilhelmshaven und Brunsbüttel sollen Terminals hierfür entstehen - und das möglichst rasch, übergangsweise auch erst einmal auf schwimmenden Plattformen.

© dpa-infocom, dpa:220427-99-68082/7