Kaum einer hat damit gerechnet, dass der Konflikt zwischen der Zentralregierung in Addis Abeba und den Rebellen in der Region Tigray bald gelöst würde. Und doch hofften die Menschen in Äthiopien, dass ihnen Schreckensmeldungen und Bilder von brutalen Angriffen erspart blieben. Es kam anders: Seit ein paar Tagen ist der Waffenstillstand, der seit März galt, gebrochen.
Am Freitag wurden bei einer Attacke auf einen Kindergarten unbestätigten Berichten zufolge zwei Kinder getötet. Im Norden des Landes, am Horn von Afrika, wird wieder gekämpft. Die örtlichen Medien beschuldigen die Zentralregierung in Addis Abeba, für den Kindergarten-Angriff verantwortlich zu sein. Die Regierung bestreitet das - bestätigt aber gleichzeitig, dass die Luftwaffe Angriffe auf militärische Einrichtungen fliegt.
Friedensgespräche in weiter Ferne
Wie so häufig in diesem Konflikt bleibt also unklar, wer tatsächlich für das Ende des Waffenstillstands verantwortlich ist - beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig. Schon in den vergangenen Monaten kam es immer wieder zu Provokationen. So hatte etwa das äthiopische Militär angekündigt, seine Luftwaffe aufrüsten zu wollen. »Beide Seiten haben es nicht einmal formell geschafft, Friedensgespräche einzuleiten«, erklärt William Davison, Äthiopien-Experte der Brüsseler Denkfabrik International Crisis Group. Welche militärischen Ziele die Konfliktparteien verfolgen, sei zum jetzigen Zeitpunkt unklar.
Der Konflikt in Tigray begann Anfang November 2020. Das Verhältnis zwischen der Regierung in Addis Adeba und Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) ist bereits seit Jahren von Spannungen geprägt, die TPLF dominierte Äthiopien gut 25 Jahre lang. 2018 kam dann Abiy Ahmed an die Macht, 2019 erhielt er den Friedensnobelpreis vor allem für die Aussöhnung Äthiopiens mit Eritrea.
Die TPLF führte in der Folge eigenmächtig Wahlen in Tigray durch und griff kurz danach eine Militärbasis an. Regierungschef Abiy begann eine Offensive mit der Hilfe Eritreas - doch viele hochrangige Offiziere der Armee liefen zur TPLF über. Die Regierung fuhr immer schwerere Geschütze auf, blieb aber ohne Erfolg. Dann begann Addis Abeba eine de facto Blockade der Region Tigray.
Schwerste Trockenperiode seit 40 Jahren
Durch den Konflikt droht sich die ohnehin verheerende Lage für die Bewohner der Region Tigray weiterhin zu verschärfen. Nach Angaben des Welternährungsprogramms (WFP) erlebt Äthiopien die schwerste Trockenperiode seit 40 Jahren. Die Dürre hält mittlerweile seit gut zwei Jahren an und hat die Lebensmittelproduktion sowie die Trinkwasserversorgung des Landes schwer beeinträchtigt. Mehr als fünf Millionen Einwohner in Tigray sind von Hilfslieferungen abhängig. Insgesamt rund 70 Prozent der Menschen in der Region sind von teilweise schwerem Hunger betroffen.
Erst die humanitäre Krise in Äthiopien zwang die Konfliktparteien im Frühjahr zu dem Waffenstillstand. So sollten dringend benötigte Hilfslieferungen in die Region ermöglicht werden. Die Rebellengruppe der TPLF stimmte damals dem sogenannten »humanitären Waffenstillstand« zu. Allzu lang gehalten hat er letztlich nicht.
Ungewisse Zukunft
Der gesamte Konflikt ist der vorläufige Endpunkt der positiven Entwicklung des Landes, das in den vergangenen Jahren als Hoffnungsträger und Stabilitätsanker am Horn von Afrika galt. Seit 2011 lag das jährliche Wirtschaftswachstum Äthiopiens bei mehr als neun Prozent. Der Reformer Abiy wurde 2019 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, nachdem er die jahrzehntelangen Grenzstreitigkeiten mit dem Nachbarland Eritrea beilegte. Mittlerweile steht Abiy aber heftig in der Kritik.
Auch die Tigray-Rebellen haben in dem Konflikt kaum noch etwas zu gewinnen. Wenn die Region tatsächlich von Äthiopien unabhängig würde, könnte Tigray wirtschaftlich wohl nicht überleben. Eine Wiedereingliederung der Region erscheint jedoch ebenfalls unmöglich. Auf beiden Seiten sei es zu schwerwiegenden Kriegsverbrechen und ethnischen Säuberungen gekommen, beklagen Menschenrechtsorganisationen. Als Reaktion kürzten die USA, die EU und weitere westliche Geldgeber ihre Zahlungen an Äthiopien.
© dpa-infocom, dpa:220829-99-551466/3