London (dpa) - Am letzten Tag vor der Parlamentswahl in Großbritannien sind die beiden Spitzenkandidaten der großen Parteien, Boris Johnson und Jeremy Corbyn, noch einmal kreuz und quer durchs Land gereist.
Premierminister Johnson überraschte am Morgen Wähler in Yorkshire als Milchmann. Den Fragen eines Reporters ging er mit der Flucht in einen begehbaren Kühlschrank aus dem Weg. Labour-Chef Corbyn startete im schottischen Glasgow und arbeitete sich in Richtung Süden vor.
Die Parlamentswahl am Donnerstag könnte möglicherweise doch spannender werden als zuletzt gedacht. Einer großangelegten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge ist der Vorsprung der Konservativen von Johnson auf die Labour-Partei kleiner geworden.
Ende November hatte eine ähnliche Erhebung noch eine Mehrheit von 68 Abgeordneten für die Konservativen ergeben. Nun gehen Wahlforscher nur noch von einem Vorsprung von 28 Mandaten für die Tories vor den anderen Parteien aus. Die Konservativen kämen demnach auf 339 von 650 Sitzen, wie die am Dienstagabend veröffentlichte Umfrage ergab. Labour hingegen verbesserte sich um 20 Sitze auf 231 Mandate.
Die Wahllokale sind von 8 Uhr (MEZ) bis 23 Uhr (MEZ) geöffnet. Unmittelbar danach wird eine Prognose im Auftrag der Fernsehsender BBC, ITV und Sky News veröffentlicht. Bei vier von fünf Wahlen seit der Jahrtausendwende lagen die Prognosen grundsätzlich richtig.
Fraglich ist, wie hoch die Wahlbeteiligung sein wird. Für Donnerstag sagten die Meteorologen schlechtes Wetter in weiten Teilen des Landes voraus. Ob sich die Briten davon aber abhalten lassen werden, ist unklar. Wahlforscher John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow warnte davor, aus der Wahlbeteiligung voreilige Schlüsse zu ziehen. Das Wahlregister sei kürzlich auf den neuesten Stand gebracht worden, viele Verstorbene wurden entfernt. Allein das werde dazu führen, dass die Wahlbeteiligung höher ausfallen werde.
Regierungschef Johnson hofft auf eine satte Mehrheit, um sein Brexit-Abkommen durch das Parlament zu bringen und sein Land zum 31. Januar aus der Europäischen Union führen zu können.
Doch selbst ein »hung parliament« - eine Sitzverteilung, die keiner der beiden großen Parteien eine Regierungsbildung aus eigener Kraft ermöglicht, kann der Umfrage zufolge nicht ausgeschlossen werden. Für die Erhebung im Auftrag der Tageszeitung »The Times« wurden mehr als 100.000 Menschen über einen Zeitraum von sieben Tagen einschließlich Dienstag befragt. Die Ergebnisse wurden anschließend für alle Wahlkreise in Großbritannien mit Ausnahme Nordirlands entsprechend lokaler Besonderheiten in der Bevölkerungsstruktur hochgerechnet.
Johnsons Konservative führten in landesweiten Umfragen bislang konstant mit zehn Prozentpunkten vor Labour. Beide große Parteien legten in den vergangenen Wochen noch einmal erheblich zu Lasten der kleineren Parteien zu, der Abstand zwischen ihnen blieb aber gleich. Das scheint sich nun in erster Linie in den vergangenen Tagen zugunsten von Labour verändert zu haben. Grund dafür dürften vor allem Leihstimmen von Wählern der Liberaldemokraten sein. Sollte sich diese Entwicklung bis Donnerstag verstärken, wäre eine Mehrheit für Johnson möglicherweise in Gefahr.
Das britische Mehrheitswahlrecht kennt nur Direktmandate. Ins Parlament ziehen die Kandidaten mit den jeweils meisten Stimmen in einem der 650 Wahlkreise ein, egal wie knapp ihr Sieg war. Die Stimmen für unterlegene Kandidaten verfallen. Das macht es sehr schwer, aus landesweiten Umfrageergebnissen auf die mögliche Sitzverteilung im Parlament zu schließen. Zudem ist das Rennen zwischen Kandidaten der Labour-Partei und den Konservativen in Dutzenden Wahlkreisen denkbar eng.
Sollte Johnson eine klare Mehrheit erreichen, könnte er schon bald mit der Ratifizierung seines Brexit-Abkommens beginnen. Zusammentreten soll das Parlament erstmals wieder am 17. Dezember. Johnson kündigte bereits an, noch vor Weihnachten über seinen Austrittsdeal abstimmen zu lassen. Der EU-Austritt soll dann am 31. Januar vollzogen werden.
Labour-Chef Jeremy Corbyn will hingegen innerhalb von drei Monaten einen neuen Brexit-Deal mit enger Anbindung an die EU aushandeln und sechs Monate später den Briten in einem Referendum vorlegen, die Alternative wäre ein Verbleib in der Staatengemeinschaft.