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Wähler im Erdbebengebiet - Erdogan, auferstanden aus Ruinen?

Vor drei Monaten erschütterten verheerende Beben die Südosttürkei. Die Katastrophe könnte Präsident Erdogan zu Fall bringen, hieß es. Wenige Tage vor der Wahl erweist sich das als Fehlschluss.

Vor den Wahlen in der Türkei
Menschen spiegeln sich in einem Wahlkampfplakat des türkischen Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten der Volksallianz, Erdogan. Am 14. Mai finden in der Türkei die Parlaments- und Präsidentenwahlen statt. Foto: Francisco Seco
Menschen spiegeln sich in einem Wahlkampfplakat des türkischen Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten der Volksallianz, Erdogan. Am 14. Mai finden in der Türkei die Parlaments- und Präsidentenwahlen statt.
Foto: Francisco Seco

Man könnte meinen, Esra Yilmaz* habe viele Gründe, sauer zu sein. Aber seit ihr die Erdbeben am 6. Februar die Schwester, die Wohnung und ihr altes Leben genommen haben, übt die Türkin sich in Bescheidenheit. Sie sei dankbar, dass ihre Kinder unversehrt sind. Ärger auf die Regierung, davon ist in der Drei-Zimmer-Wohnung, die sie sich mit 14 anderen Menschen am Rande der zerstörten Stadt Antakya teilt, keine Spur. Ihre Stimme gehöre Erdogan, sagt Yilmaz.

Yilmaz steht exemplarisch für Wählerverhalten, das bei vielen Beobachtern Fragezeichen hervorruft. Als nach den Erdbeben ein Sturm der Kritik über die Regierung unter Recep Tayyip Erdogan hinwegfegte, sahen viele deren Ende gekommen. Doch wenige Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ist davon Umfragen zufolge kaum eine Spur geblieben.

Im April lag die Zustimmung des Bündnisses um Erdogan und seiner AKP nach kurzweiligen Verlusten wieder bei Werten wie vor der Erdbebenkatastrophe, wie eine Zusammenstellung mehrerer Umfragen durch das Institut Türkiye Raporu zeigt. Gleiches gilt für das Oppositionsbündnis um Herausforderer Kemal Kilicdaroglu.

Medien stehen unter Kontrolle der Regierung

»Das zeigt, wie stark die Gesellschaft polarisiert ist und wie mächtig die Propagandamaschinerie der Regierung Erdogan«, sagt Salim Cevik von der Stiftung für Wissenschaft und Politik. Medien stehen in der Türkei größtenteils unter direkter oder indirekter Kontrolle der Regierung.

Tatsächlich ist eine derartige Entwicklung in der Türkei nicht untypisch. Auch bei Krisen in der Vergangenheit konnte der Präsident darauf zählen, dass sich die Menschen dann eher hinter ihm versammeln. Hinzu kommt, dass viele Erdogan-Anhänger dem Präsidenten ihren persönlichen wirtschaftlichen Aufstieg zu verdanken haben.

Seine Wiederwahl ist damit nicht gesichert - im Gegenteil, Umfragen zufolge geht Erdogan erstmals nicht als Favorit ins Rennen. Und natürlich gibt es sie, die laute Wut auf die Regierung in der Erdbebenregion. Auf den Straßen in Städten der Provinz Hatay begegnen einem Menschen an jeder Ecke, die tagelang auf Hilfe gewartet haben, die sich selbst helfen mussten, weil die Armee oder der türkische Katastrophendienst auf sich warten ließen.

Keine Hilfe angekommen

Mahir Cebburoglu ist Vorsitzender eines Stadtteils in Samandag. Mit seinem Roller fährt er durch die Gegend auf der Suche nach Wählern, um ihnen ihre Wahlkarten auszuhändigen. Gibt es sie überhaupt noch? Sind sie noch in Samandag? Cebburoglu weiß es nicht. Allein in seinem Stadtteil sind 350 Menschen getötet worden. Von der Regierung sei keine Hilfe nach Samandag gekommen, sagt der Mann, der bei dieser Wahl für die stärkste Oppositionspartei CHP kandidiert. Ginge es nach ihm, hätte man die Wahl verschieben müssen. Er ist nicht der einzige, der so denkt.

In den elf vom Erdbeben getroffenen Provinzen werden in Containern oder Schulen mehr als 9000 Wahlurnen aufgestellt. 50 000 Menschen sind offiziellen Zahlen zufolge gestorben, andere Schätzungen gehen von mindestens 300.000 aus. Knapp ein Viertel der Bevölkerung hat die Region laut Regierungsangaben verlassen, die wenigsten haben sich in anderen Orten registriert. Wie und ob sie ihre Stimme abgeben, ist ungewiss - ebenso für wen.

Eine Gruppe von Bauarbeitern sitzt zum Mittagessen im Schatten einer Ruine. Sie sind aus Gaziantep hier in das schwer zerstörte Samandag gekommen und unterstützen bei den Abrissarbeiten. »Wenn Erdogan nicht wiedergewählt wird, dann passiert hier ein Jahr lang erstmal gar nichts«, sagt einer.

Erdogan, begabter Rhetoriker, ist ein Meister darin, der Realität einen ihm nützlichen Deutungsrahmen zu geben. Das Erdbeben nennt er eine »Jahrtausendkatastrophe«, auf die kein Land der Welt hätte vorbereitet sein können. Wenige Wochen nach dem 6. Februar redet er fast nur noch vom Wiederaufbau.

Vetternwirtschaft in der Baubranche

Die Regierung hat Berichten zufolge nun anfallende Aufträge in der Region an ihr nahestehende Unternehmen vergeben. Gerade in der türkischen Baubranche herrscht Vetternwirtschaft, auf ihr fußte das Wirtschaftswachstum, das Erdogan in seinen ersten Jahren national wie international euphorische Zustimmung bescherte.

Sefa Ekmekci vom Wahlkoordinierungszentrum der AKP in Kahramanmaras ist sicher, dass Erdogan die Krise gemeistert hat: »Nachdem unser Präsident am 23. März den Grundstein für neue Bauten in Kahramanmaras gelegt hat, geht der Wiederaufbau flott voran. An vielen Orten wurden bereits vierstöckige Gebäude fertiggestellt.«

Dass noch viele Straßen in Schutt und Asche liegen und Menschen auch drei Monate nach den Beben nicht ausreichend zu essen haben, kommt in dieser Erzählung nicht vor. Der 19-jährige Mustafa Deviren erlebt das jeden Tag. Mit seiner Familie wohnt er in einem Zelt in Pazarcik, dem Zentrum des ersten Bebens. Hier warten sie vergebens auf Container und die Hilfe, die sie brauchen. Er ist sich sicher, dass er seine Stimme nicht an Erdogan gibt.

Für Yilmaz habe sich durch das Erdbeben nichts an der politischen Realität verändert. Die Verantwortung für die vielen eingestürzten Bauten sieht sie bei Ingenieuren und Bauherren, nicht bei Erdogan und den Behörden. »Ich habe meine Stimme immer der AKP gegeben, ich werde es auch dieses Mal tun.«

© dpa-infocom, dpa:230510-99-633647/2