Millionen Bedürftige können im neuen Jahr auf höhere staatliche Leistungen und eine gründlichere Betreuung durch die Jobcenter hoffen. Nach der grundsätzlichen Einigung zwischen Ampel-Koalition und CDU/CSU-Opposition stimmte am Mittwochabend in Berlin der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat für das geplante Bürgergeld in seiner geänderten Fassung. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) betonte nach den 90-minütigen Beratungen: »Heute ist klar: Das Bürgergeld kommt zum 1. Januar - Hartz IV geht.«
Der Arbeitsminister sprach von der größten Sozialreform seit zwei Jahrzehnten. »Das hier ist nicht ein neuer Name, sondern wir reden über ein neues System.« Dagegen sagte die Linke-Abgeordnete Gesine Lötzsch: »Hartz IV ist umbenannt worden.« Durch den Druck der Union sei eine unzureichende Reform noch verschlechtert worden. Die Linke stimmte - wie die AfD - im Ausschuss gegen den Entwurf. Der Kompromiss muss an diesem Freitag noch von Bundestag und Bundesrat bestätigt werden. Dies gilt als sicher.
Das Bürgergeld soll zum Jahresbeginn mit deutlich höheren Regelsätzen in der Grundsicherung starten. Wesentliche Teile der Reform sollen erst zum 1. Juli in Kraft treten: So sollen die Jobcenter mit jeder und jedem betroffenen Arbeitslosen einen Kooperationsplan aufstellen, in dem der vorgesehene Weg zurück zu regulärer Arbeit festgelegt wird.
Kooperation auf Augenhöhe
SPD-Fraktionsgeschäftsführerin Katja Mast sagte: »Der Kern des Bürgergelds ist die Kooperation auf Augenhöhe.« FDP-Vize Johannes Vogel sprach ebenfalls von einer »guten Nachricht«, weil sich Leistung durch großzügigere Zuverdienstregeln künftig für Betroffene mehr lohne. »Das ist der Kern dieser Reform für eine modernere und fairere Grundsicherung.« Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann erklärte, das Bürgergeld sei auch im Interesse der Wirtschaft und des Handwerks, die oft händeringend Arbeitskräfte suchten.
Von einem »guten Vermittlungsergebnis« sprach auch der CDU-Arbeitsmarktexperte Hermann Gröhe. »Es ist für uns zentral gewesen, die Balance zwischen Fördern und Fordern wieder herzustellen.« Dies sei gelungen. Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag stellte sich in einer Sondersitzung bei nur einer Enthaltung hinter den Kompromiss. Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) äußerte die Erwartung, dass am Freitag im Bundesrat alle von der Union regierten oder mitregierten Länder zustimmen. Unklar war zunächst, wie sich das CSU-geführte Bayern verhalten wird. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte: »Der Geist, der in Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommens ging, ist zurück in der Flasche.«
Die Union hatte gegenüber der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP durchgesetzt, dass Jobcenter Betroffene bei Pflichtverletzungen stärker und früher als ursprünglich geplant mit Leistungskürzungen sanktionieren können. Außerdem sollen Leistungsbeziehende nur 40.000 Euro an eigenem Vermögen behalten dürfen. Ursprünglich waren 60.000 Euro vorgesehen gewesen.
Scholz verteidigt Reform gegen frühere Unions-Kritik
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte schon am Vormittag in der Generaldebatte im Bundestag gesagt: »Wir sorgen dafür, dass Arbeit sich mehr lohnt als zu jedem Zeitpunkt einer CDU-geführten Bundesregierung.« Scholz verteidigte die Reform gegen frühere Kritik aus der Union. Was die Bundesregierung und CDU und CSU unterscheide, sei »offenbar das Bild, das wir von den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes haben«. CDU und CSU hatten einige Regelungen als zu mild bemängelt und Missbrauch befürchtet.
Viele Menschen sorgten sich in der aktuellen Krise nicht nur um hohe Energie- und Lebensmittelpreise, sondern vor allem um ihren Arbeitsplatz und die Zukunft ihres Betriebs, sagte der Kanzler. »Das zeigt doch eines ganz klar: Die Bürgerinnen und Bürger wollen arbeiten und sie wollen von ihrer Arbeit anständig leben können.« Der Vermittlungsausschuss war angerufen worden, weil der Bundesrat anders als zuvor der Bundestag Heils Entwurf nicht zugestimmt hatte.
Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) betonte, jetzt bekämen »Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht mehr am Arbeitsleben teilnehmen, wieder eine Zukunftsperspektive und echte Chancen auf einen Wiedereinstieg«. Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) erklärte: »Der Kompromiss kann sich sehen lassen. Ich halte das Ergebnis für einen großen Erfolg des Föderalismus.« Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagte: »Ich bin froh, dass wir heute eine einvernehmliche Lösung gefunden haben und sich beide Seiten aufeinander zubewegt haben.«
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