Seine Mimik und seine Augen verraten, dass er zwischen Freude, Hoffnung und Verzweiflung schwankt. Aleksandr Shepieliev weiß nicht so recht, was ihn in wenigen Tagen nach der ersehnten Rückkehr in seiner Heimat Ukraine erwartet. Wie kaputt ist sein Land? Wer lebt noch, wer ist verletzt? Was hat seine Familie, was haben Freunde daheim durchgemacht? Doch trotz der vielen Unwägbarkeiten und des unfassbaren Leids in seiner vom Krieg weitgehend zerstörten Heimat kann er es das Wiedersehen kaum erwarten. »Ich freue mich darauf, bald wieder nach Hause zu kommen und meine Familie und vielleicht auch meine Kameraden wiederzusehen«, sagt der 21 Jahre alte Berufssoldat am Freitag in Bochum.
Nach einer monatelangen medizinischen Behandlung im Ruhrgebiet fährt der Offizier der ukrainischen Armee am kommenden Mittwoch zurück ins Kriegsgebiet. Sein älterer Bruder holt ihn ab und bringt auch andere in NRW behandelte Landsleute mit dem Bus in die Ukraine. Und dann?
Es ist kaum vorstellbar, was der schmächtige Mann in seinem jungen Leben bereits durchgemacht hat. Mit 17 Jahren beginnt er eine vierjährige Ausbildung an der Militärakademie. Kaum hat er die erfolgreich absolviert, geht es an die Front, nachdem Russland am 24. Februar 2022 sein Land überfallen hat. Auch dieses Datum wird er nie mehr vergessen: Am 8. April schlägt knapp neben dem jungen Leutnant bei einem russischen Bombenangriff im ostukrainischen Ort Rubischne eine Bombe oder Granate ein. Zahlreiche Granatsplitter zerfetzen seine Beine, er verliert viel Blut. Wäre die Explosion etwas weiter von ihm entfernt gewesen, hätten die streuenden Splitter wohl seinen Oberkörper durchbohrt. Dann wäre er kaum noch am Leben. Wie fünf seiner Kameraden, die getötet wurden, seit er hier in Sicherheit ist.
Schreckliche Bilder aus der Heimat
Fast täglich habe er Kontakt nach Hause, erzählt Aleksandr. Bekommt Nachrichten, Videos, Bilder - schreckliche Bilder, die er nicht zeigen mag. Aleksandr - der Name kommt aus dem Griechischen und heißt übersetzt so viel wie »Beschützer der Männer«. Nicht unpassend. Aber alle nennen ihn nur Sascha. »Es war großes Glück, dass ich hier in Bochum im Krankenhaus gelandet bin«, sagt er nachdenklich. Alle seien nett, kümmerten sich um ihn. Aleksandr spricht passabel Englisch. Dennoch hilft ein Landsmann beim Termin in Bochum beim Übersetzen.
Als er am 9. Juni - vor genau drei Monaten - liegend mit dem Rettungswagen ankommt, ist er noch auf den Rollstuhl angewiesen. Nun läuft er wieder, wenn auch meist an Gehstützen. Die Krücken will er aber noch loswerden. Zwölfmal ist er schon in der Ukraine operiert worden. Unter anderem wurde ihm eine gerissene Beinarterie geflickt. Unzählige mehr oder minder gut verheilte Narben sind in seinen dünnen Beinen gut sichtbar. Doch immerhin kann er die von den Ärzten in der Ukraine bereits erwogene Amputation abwenden.
An der Uniklinik in Bochum kommt ihm dann ein spezielles Nerven-Ultraschallgerät (Nervensonographie) zugute, das es in Deutschland nicht oft gibt. Noch seltener werde es zur Diagnose von strukturellen Verletzungen der Nerven genutzt, »leider«, sagt Professor Dr. Christos Krogias. Der Bochumer Oberarzt leitet in der Neurologie die Schlaganfallstation und ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Ultraschall-Medizin (Degum). »Das Problem bei Aleksandr war, dass er seinen rechten Fuß nicht mehr heben beziehungsweise hochziehen konnte«, erläutert der Spezialist.
Granatsplitter hat sich in Nerv eingenistet
Als die Chirurgen nicht weiterkommen, wird Krogias hinzugezogen. Mit dem Ultraschall erkennt er die Ursache des Übels: Ein winziger Granatsplitter hat sich mitten im Nerv eingenistet und so die Reizweiterleitung verhindert. Der Fuß kann vom Gehirn nicht angesteuert werden. Den Rest erledigen die Neurochirurgen in der Essener Uniklinik. Sie entfernen den Splitter.
Danach geht es bergauf. Täglich schuftet Aleksandr drei Stunden in der Reha, um wieder so fit wie möglich zu werden. Und so schwer es auch vorstellbar ist: um möglichst wieder aktiv an der Front mitzuhelfen, sein Land zu verteidigen. Gegen die Russen, für die sie mittlerweile ein Schimpfwort kreiert haben. »Das gab es früher nicht.« Und wenn er es körperlich nicht mehr packt? »Ich weiß nicht. Ich bin Soldat. Etwas anderes habe ich nicht gelernt.« Er weiß, dass es noch ein sehr langer Weg ist. Und dass er es nicht einmal selbst in der Hand hat. »Wenn ich zurück bin, entscheidet eine Kommission wie es bei mir weitergeht. Ob ich in der Armee bleiben darf.« Nur eines ist für ihn sicher: »Der Krieg ist noch nicht vorbei, er kann noch lange dauern.«
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